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Das Kind lernt, sich der Beschämung zu unterwerfen. Es identifiziert sich nach und nach mit der beschämenden Stimme des Erwachsenen. Das Kind beginnt sich zu schämen. Beginnt sich seiner selbst zu schämen. Beginnt, sich der Stimme seines Herzens zu schämen. Beginnt, den Teil in sich zu belächeln, zu verachten oder zu hassen, der die Stimme seines Herzens repräsentiert. Sein sich entwickelndes Ich, sein Verstand wird jene Instanz, die sich mit der beschämenden Lebensumwelt identifiziert, und nach und nach beginnt, ihren Job zu übernehmen.Am Anfang sind es viele Facetten seiner Gefühle, seiner Körperlichkeit, seiner Sinnlichkeit, seiner Sehnsucht, die eng verbunden sind mit seinem Herzen. Später wird diese Verbindung längst gelöst sein, dann reichen bestimmte Empfindungen, Gefühle, Emotionen, völlig aus, um sich derer zu schämen, oder »fremdzuschämen«, um ein Modewort zu gebrauchen.
Das Ganze ist ein durchaus schmerzhafter Prozess. Ein Schmerz, der tief vergraben wird in der Seele und Körper der Menschen. Ein Kampf, der von vornherein aussichtslos ist. Das Kind kann seine organismische Wahrheit, kann sein Herz nicht retten. Blessuren sind nicht zu vermeiden, selbst in liebevollsten Familien. Das Herz und die Stimme seines Herzens müssen auf dem Altar der gehirnorientierten Realität geopfert werden, um zu überleben. Um nicht zerrissen zu werden. Das ist eine kulturelle Lektion, der sich niemand zu entziehen vermag.
Doch wo Frieden herrschte, kommt es zu einem Kriegszustand. Die Selbstbeziehung wird und bleibt geprägt durch diese tiefe Beschämung. Das Kind schämt sich seiner selbst. Es verliert. Es verliert sich. Es verliert seine Würde, seine Anmut, die Verbindung zu seinen Instinkten, seiner Intuition, die Wahrnehmung des Einsseins mit sich und der Welt. Es wird das, was von ihm erwartet wird. Das Kind nicht mehr in sich selbst zuhause. Es wird heimatlos. Seine innere Heimat ist verloren. Damit der Schlüssel zur Wahrheit seiner Existenz. Seine Augen verlieren ihr Strahlen, seine Bewegungen ihren Fluss, der heranwachsende Mensch wird steif, verspannt, rigide und heimatlos in seiner eigenen Seele und im eigenen Körper.
Der Ego-Verstand, gar nicht mehr so nüchtern in seiner johlenden Überheblichkeit, glaubt, auf der ganzen Linie gesiegt zu haben. Ein Phyrrussieg. Denn das abgeschnittene Herz ist nicht tot. Es schlägt weiter, damit der Körper leben kann. Damit das Gehirn existieren kann. Und dies Herz, das schlägt, macht allein dadurch Angst, dass es schlägt. Es ist unheimlich. Der Schrecken des lebendigen Herzens! Herzangst.
Das lebendige Herz ist nicht ein Zeichen der Stärke, der Vitalität, der innewohnenden Potentiale der Persönlichkeit. Es ist nicht das heilige Organ der Liebe. Es ist nicht das Göttliche im tiefsten Grund der Seele, das immerwährende Ziel aller Sehnsüchte von Heimat, Gott, Glück, Selbsterkenntnis und Erleuchtung. Nein, nein, nein! Es ist, indem es dem Gehirn das ist, was es ist: ein spezieller Muskel für die Blutversorgung, beängstigend und bedrohlich. Herzangst wird Lebensangst. Herzangst wird Liebesangst. Herzangst wird Orgasmusangst. Abgetriebene Sehnsucht. Kontrolliert mit EKGs, Blutdruckmessgeräten, misstrauischen Griffen zum Puls, Pulsmessern rund um die Uhr.
Doch die Herzen in unserer Kultur tanzen als Organe aus der Reihe. Lassen sich nicht kontrollieren. Sind so nicht in den Griff zu bekommen. Die meisten Menschen im Westen sterben an Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Der Herzinfarkt hängt wie ein Damoklesschwert über den hirnstolzen, dauergestressten Häuptern. Gequälte, kranke Herzen.
(Fortsetzung folgt)