SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (222): Die Entdeckung des Entregungsphänomens


SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (222): Die Entdeckung des Entregungsphänomens

foto: pixabay

Als junger Körpertherapeut, später als Trainer, machte ich Erfahrungen, die erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der seinsorientierten Transformation auslösten. Sie veränderten meine Sicht auf die Körperseele. Gleichzeitig ließen sie die Bedeutung des Halts und die Funktion des Haltgebens und der Energieprozesse in anderem Licht erscheinen.
In der Praxis begegnete mir bisweilen das Phänomen, dass Klienten während der Körperarbeit in einen tranceartigen Zustand glitten. Nach gängigen Einschätzungen interpretierte ich es zunächst als Widerstand und Abwehrverhalten. Meine Interventionen erfüllten die Funktion, den Klienten gezielt zurück auf die Aktivitätsschiene zu bringen, ihn aus dem Zustand dieses widerständigen »Aus-dem-Kontakt-Gehens« zu »befreien«.
In diesen Jahren interessierte ich mich bereits brennend für andere körpertherapeutische Modelle und Traditionen, nicht nur für diejenigen, die auf Reich zurückgingen. Eines Tages hörte ich von einem amerikanischen Körpertherapeuten und Zahnmediziner Martin Allen. Er bot Workshops in Cranio-sacraler Therapie an, ein Verfahren, das damals noch wenig Verbreitung in Deutschland fand. Eine Zeitlang nahm ich bei Martin an Weiterbildungen und Einzelsitzungen teil. Die cranio-sacrale Therapie mit ihrem Pulsationsmodell schien gut zum vegetativen Verständnis der Orgontherapie zu passen und erweiterte ihr Energiemodell auf einer feinstofflicheren Ebene.
Bei den Einzelsessions mit Martin Allen machte ich die irritierende Erfahrung, dass ich häufig schon nach wenigen Minuten in einen Trancezustand geriet, den ich als angenehm, entspannend und erfrischend empfand. Nach einer Sitzung fühlte ich mich energetisch »erhellt«, sensitiver in meiner Körperwahrnehmung, erfrischt und geläutert. Solche Empfindungen und Wahrnehmungen passten allerdings überhaupt nicht zur gängigen Interpretation des Trancezustands als Abwehrverhalten, die damals in der reichianischen Körpertherapie vorherrschte.
Dazu kam, dass die Cranio-sacrale Therapie keinerlei psychotherapeutische Dimension implizierte, es sich also um eine rein funktionale Körpertherapie handelte. Das Erklärungsmodell der Abwehr und der Kontaktvermeidung griff also nicht.
Eine zweite Erfahrungsquelle bildeten meine Studien zur frühkindlichen Entwicklung der Säuglingsphase, zusammengefasst in dem Beitrag »Orgonomische Aspekte des Stillens«. Insbesondere das Phänomen des oralen Orgasmus beim Säugling und die daran anschließende Trancephase, aber auch die zu jener Zeit neuen Forschungen und Erkenntnisse zu den Gehirnwellenmustern der prä- und postnatalen Entwicklung, faszinierten mich. Dabei deutete vieles darauf hin, dass der Mensch in der vorgeburtlichen Entwicklung und in den ersten Lebensmonaten einen Großteil seines Wachzustands in tranceartigen Entspannungszuständen verbringt. Die Gehirntätigkeit dominieren Alpha- und Thetawellen (Alphawellen verweisen auf Gehirnwellenmuster, die in leichten, Thetawellen, die in tiefen Entspannungszuständen des Wachbewusstseins auftreten. Betawellen entsprechen einer erregteren Gehirntätigkeit, z. B. einem aktiv Zustand des Nachdenkens). Erst mit dem 4. Lebensmonat treten typischerweise Betawellen in den Vordergrund und bleiben die dominierenden Gehirnwellenmuster des menschlichen Wachzustands bis zum Lebensende.
Wichtige Hinweise gab ein damals in der Szene viel beachteter Aufsatz von Mona-Lisa Boyesen mit dem Titel The Infant and the Alpha.
Daraus ergaben sich aufregende Fragen: Welche Funktion verbarg sich hinter dem Phänomen, dass der Mensch in seiner prä- und perinatalen Entwicklung in einem Dauerzustand von Entspannung lebt, der sich später für immer verflüchtigt? Welche Funktion hatten diese Trancezustände in den Frühphasen der ontogenetischen Entwicklung? Traten sie ubiquitär auf? Konnten sie gehemmt werden? Vermochte man sie körpertherapeutisch zu unterstützen oder in Gang setzen? Welche energetischen und psychischen Prägungen und Störungsmuster könnten auf diesem Hintergrund anders betrachtet werden?
(Fortsetzung folgt)

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