Myron Sharaf (1926 – 1997)
Bemerkenswert an dieser Reich-Biografie dürfte nicht nur die fast 20-jährige sorgfältige Recherche sein, die Myron betrieben hatte, sondern auch die authentische Erörterung einer durchaus ambivalenten Beziehung zu Reich. Er beschreibt die innere Zerrissenheit, die ihn als junger Sekretär von Reich erfüllte, als seine Liebste sich auf eine Affäre mit Reich eingelassen hatte, und die beim Verfassen des Buches wieder auflebte. Eine derartig ehrliche und authentische Beziehungsklärung findet man selten bei einem Biographen.
Myron Sharaf war, als ich ihn Ende der 80er Jahre kennenlernte, bereits emeritierter Psychologie-Professor der Harvard-University in Boston. Als Reich-Schüler und Psychoanalytiker verstand er es, die Körpertherapie in der Tradition von Reich mit Psychoanalyse und Psychodrama zu verknüpfen und dieses Wissen sinnfällig weiterzugeben.
Myron, etwa Ende 60, zeigte eine imposante, leicht gebeugte und gleichzeitig entspannte Statur. Mir fiel sogleich sein markanter Unterkiefer auf, sein Mund stand häufig etwas offen. Entweder deutete es darauf hin, dass die Panzerung seiner Kiefer-Muskulatur vollständig aufgelöst war oder sein fortgeschrittenes Alter forderte hier ihren Tribut. Eine Antwort blieb offen.
Wir jungen Reich-Enthusiasten drängten Myron immer wieder dazu, auf seine Erinnerungen an Wilhelm Reich zurückzukommen. Verständlicherweise sprach er lieber über andere Themen. Vor allem zeigte er eine Meisterschaft darin, jüdische Witze zum Besten zu geben. Er verstand es mit einnehmender Mimik, fesselndem Erzählstil und nie endendem Repertoire seine Zuhörer zu fesseln und eine Lachsalve nach der anderen auszulösen.
Myron erwies sich zudem als kreativer, kritischer Geist, einerseits hochgebildet, andererseits faszinierte sein leichter, fast spielerischer Umgang mit komplexen Themen, den er in seine therapeutische Arbeit einbrachte. Ein warmherziger älterer Herr im persönlichen Umgang, mit dröhnendem Lachen, konnte er als ebenso kritischer und scharfzüngiger Geist auftreten, wenn er gegen jede Art von Dogmatismus und Orthodoxie zu Felde zog.
Als sein Spezialgebiet entpuppte sich das Gebiet der Übertragungen, welches man in den meisten neoreichianischen Schulen, auch in meiner eigenen Skan, damals sträflich vernachlässigte. Nicht nur, dass er als Psychoanalytiker und Lehrer hierzu ein umfangreiches theoretisches und technisches Wissen einbringen konnte, erhellend und inspirierend wirkte die Umsetzung des Übertragungsthemas in psychodramatischen Szenarien und Rollenspielen, die er im Laufe seines Lebens entwickelt und perfektioniert hatte.
Das, was ich in meiner »Heimat-Schule« Skan vermisste, aber in Beobachtungen, nicht nur in der therapeutischen Praxis, vorfand, nämlich die Macht von Übertragungen, lernte ich in der Arbeit mit Myron Sharaf tiefer zu verstehen und zu handhaben. Im Grunde übertrugen wir das altbewährte Handwerkszeug des Psychoanalytikers unter Einbeziehung des Energieprinzips auf das Setting der modernen Körpertherapie.
In jedem Prozess, welcher die liebende Natur des Menschen befreit, erweisen sich Übertragungen als wichtige Wegmarken und Orientierungspunkte, insbesondere in Gestalt der sog. »positiven Übertragungen«. Gleichzeitig wirken sie als Hemmungen, Erstarrungen und Blockierungen dieser inneren Liebesfähigkeit in Gestalt der sog. »negativen Übertragungen«. Beide weisen eine energetische Dimension auf, insbesondere im Bereich der Körpersprache und der Beziehungsmuster.
(Fortsetzung folgt)