Reich selbst verfügte offenbar über einen reichen Fundus von kreativen und künstlerischen Potentialen, die lange Jahre im Hintergrund verborgen blieben hinter einer wissenschaftlichen Weltsicht. In den letzten Lebensjahren schien seine kreative Seite machtvoll zum Ausdruck zu drängen. Nicht nur sein bereits erwähntes Spiel auf der Orgel und die Beschäftigung mit Musiktheorie und Komposition, sondern auch die vielen Ölgemälde, die man im Museum vorfindet, weisen darauf hin. Er galt als Verehrer Vincent van Goghs und Edvard Munchs, bewunderte bei beiden das Gespür für die Darstellung der atmosphärischen Lebensenergie, des Äthers, des Orgon. Betrachtet man die Ölgemälde Reichs im Museum, wird schnell deutlich, dass er sich von ihren Naturdarstellungen in seinen eigenen Bildern stark inspirieren ließ.
Al Baumann zeigte sich nicht nur der klassischen Musik, sondern auch dem Theater intensiv verbunden. Von ihm hörte ich zum erstmals von Pionieren der Theatergeschichte wie Stanislawski und Lee Strasberg. Synergieeffekte, die sich im Umfeld von Reich und der Künstler- und Theaterszene in Greenwich Village, dem Method Acting und der New School for Social Research
ergaben, prägten spätere Weltstars wie Marlon Brando oder Walter Matthau. Eine ganze Generation von jungen Künstlern entdeckte damals Wilhelm Reich und seine lebensenergetischen Ansätze.
Baumann selbst verschmolz seine künstlerisch-lebensgeschichtlichen Prägungen mit der Reichianischen Arbeit zum sog. »Streaming Theatre«. Er verstand darunter eine Art Ich-Entäußerung und Inneres-Selbst-Darstellung, die ihre Wurzeln im »vegetativen Strömen« besitzen, wie Reich jenes Phänomen nannte, das man heute etwa als »Flow« bezeichnen könnte. Die Ausdrucksbewegungen des authentischen Selbst aus der Präsenz des Augenblicklichen stand im Fokus. »Streaming Theatre« erwies sich als ausgezeichnete Methode, um Präsenz zu üben, insbesondere vor einem Publikum.
Gern nutzte Al die energetische Identifizierung mit Tieren. In gewisser Weise ähnelte es den Ritualen indigener Völker, die sich körperseelisch stark mit einem Tier identifizieren, eins mit ihm werden und sich in ihrer Präsenz in dieses Tier zu verwandeln scheinen. Nicht der (schau)spielende Mensch, der imitiert, stand im Vordergrund, sondern die Haltung, mit allen phylogenetischen, archaischen Ressourcen aus den Tiefen des Selbst zu diesem Tier zu regredieren, es zu sein.
Der Ansatz von Al, den Prozess der Verlebendigung, der in der Körpertherapie auf der Matte stattfand, auf der Bühne des »Streaming Theatre« und dem damit verbundenen authentischen Selbstausdruck fortzusetzen, konnte in der Zusammenarbeit von Al und Michael zum festen Bestandteil der Skan-Arbeit gedeihen. Bis zum heutigen Tage wird es vom Skan-Trainer Loil Neidhöfer in Hamburg gepflegt und weiterentwickelt.
Emily Derr, Stimmtrainerin und Opernsängerin, verband das traditionelle klassische Stimmtraining mit energetischer Körperarbeit. Sie half mir, die Stimme als authentische Ausdrucksform nicht nur zu entdecken, sondern auch ihre Blockierungen in Körperhaltung und Körperausdruck zu erkennen und zu verändern. Sie zeigte, wie über Töne nicht nur emotionaler Selbstausdruck, sondern auch tiefe Trancezustände erfahrbar werden.
Als kultureller Höhepunkt dieser Aix-Wochen blieben sog. »living room concerts« in Erinnerung. Al Baumann saß am Klavier und Emily, barfüßig, voll weiblicher Süße, leger im leichten Sommerkleid, gaben klassische Arien und Lieder. Emilys wundervoller Gesang erklang in einer Umgebung, die alles andere als die gewohnte Steifheit des elitären Kulturverständnisses repräsentierte. In einer hellen luftigen Halle stand sie einfach da, umgeben von jungen Menschen, die auf dem Boden hockten oder sich auf Matratzen gefläzt hatten oder kuschelten.
Meine durch mein Elternhaus vorbereitete Liebe zur Oper erhielt durch diese intimen Konzerte den letzten Anstoß, die Faszination von Opern auf einer tieferen, energetischen Ebene neu zu erleben und wahrzunehmen. Insbesondere die klassischen italienischen Opern verstehen es ja meisterhaft, die Schwingungsmuster von Emotionen im Zuhörer in Bewegung zu setzen. Gewiss macht ein Teil dieser Anziehung aus, dass sie – künstlerisch – etwas ausdrücken, was Zuschauer und Zuhörer in sich selbst fühlen, aber nicht zeigen. Handelt es sich hier um einen an die Sänger delegierten Gefühlsausdruck in hochkultureller Verpackung? Dies könnte zumindest ein Teil der Faszination darstellen, welche die Opernmusik bis heute in unserer Kultur charakterisiert.
Die Sommerworkshops in Südfrankreich wirkten wie ein mehrwöchiges Festival gelebter Lebensenergie, der Kreativität, der Liebe. Getragen vom Geist schöpferischer Neugier, das Lebendige in sich selbst und zwischen den anderen zu entdecken und zu zelebrieren, vermochten sie die Verlebendigung des Einzelnen im »Stammesleben« zu erproben und zu verstärken.
(Fortsetzung folgt)