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Ad 4.: Charakteranalytische Therapie nach Wilhelm ReichDer revolutionäre Ansatz Reichs fand sich bereits in seiner Charakterlehre, als er noch als Psychoanalytiker praktizierte. Zwar hatten Freud und vor allem die Analytiker Karl Abraham und Franz Alexander erste Elemente zu einer Charakterlehre geliefert. Aber erst Wilhelm Reich schuf eine systematische Theorie des Charakters und ein darauf basierendes Modell ihrer therapeutischen Anwendung.
Diese Charakterlehre basiert auf dem psychosexuellen Entwicklungsmodell und begreift die Persönlichkeit des Einzelnen als persönlichkeitsbildende Programmierung in der jeweiligen Phase.
Die Radikalität seines Ansatzes liegt darin, dass hier nicht mehr zwischen neurotisch und nicht-neurotisch (also »gesund« oder »normal«) unterschieden wird. Jeder Charakter, jede Persönlichkeit weist demnach grundlegende neurotische Muster auf. Folgerichtig will eine charakteranalytische Behandlung die Persönlichkeit als Ganzes transformieren, nicht nur ein bestimmtes und begrenztes Symptom. Diesen »transformierten« Charakter bezeichnete Reich später als »genitalen Charakter« und definierte damit sein Modell seelischer Gesundheit.
Ad 5.: Seinsorientierte Transformation
Diese geht einen essentiellen Schritt über Reich hinaus, indem sie das Modell des Egos, das sich in spirituellen Persönlichkeitslehren findet, in den Prozess miteinbezieht. Sie verbindet die Traditionen der Charakteranalyse Reichs mit der Essenz des spirituellen Wissens um die Macht des Egos.
Diese dominiert überall, das Individuum, seine Beziehungen, Kultur und Gesellschaft, erscheint im winzigsten Detail des Alltags. Die Dominanz des narzisstischen Egos gebärdet sich total und totalitär. Jede Freiheit beginnt erst dort, wo es möglich wird, diese Allmacht zu transzendieren. Diesen Prozess beim Einzelnen in Gang zu setzen, das ist der Ansatz der seinsorientierten Transformation.
Die Macht des narzisstischen Egos
Eine besondere Eigenschaft des narzisstischen Egos besteht darin, dass es sich im Laufe des Lebens mit einer persönlichen Geschichtsschreibung identifiziert hat. Dieses Drama inszeniert sich mit wachsendem Lebensalter immer rigider, unbeweglicher. Wie der Körper in Prozess des Älterwerdens sukzessive versteift, so erstarren auch Selbst- und Weltwahrnehmungen. Das Gewicht der Erfahrungen im seelischen Erleben erzeugt eine Schwere, die unerträglich anmutet. Was hat es mit dieser »persönlichen Geschichtsschreibung« und der damit verbundenen Schwere auf sich?
Auf der oberflächlichen Ebene findet man sich zunächst mit dem Ich konfrontiert. Es ist das Ich, das jene Geschichte erzählt, wer ich bin und weshalb ich so und nicht anders geworden bin und nur so und nicht anders mich selbst präsentiere. Das Ego repräsentiert die absolute Identifizierung mit dieser Geschichte, die ICH mir selbst und anderen präsentiere.
Begriffe wie Image, Prestige, Renommee, Ehre, Leumund, Ruf, Respekt (vor der verlogenen Ego-Story), das grundlegende Beziehungsmuster des »Rühr-mich-nicht-an« repräsentieren einige Aspekte dieser Selbstpräsentation. Die Rigidität, die hier aufscheint, kann, begegnen wir dem Menschen offenen Herzens, als schmerzhaft, ja wahnwitzig wahrgenommen werden, doch sie ist bitterer, bisweilen auch tödlicher Ernst. Wie viele Leben werden geopfert im Namen von Image und Ehre?
(Fortsetzung folgt)