Franz von Stuck: Sisyphos
Sisyphos wurde als der verschlagenste aller Menschen in der griechischen Mythologie beschrieben, überlistete und verspottete er doch die Götter. Er erhob sich über sie, ihre »göttergebenen Regeln«. Sisyphos gerierte sich lieblos, grandios; ein selbstbezogener Narziss, für den weder Bindung noch menschliche Wärme etwas galten. Ein kalt berechnender Vernunftmensch, nur auf seinen eigenen – scheinbaren – Vorteil ausgerichtet.
Am Ende holte ihn, wie jedes Lebewesen, der Tod. Der Totengott, den er vorher ebenfalls verspottet hatte, legte ihm eine schwere Strafe auf. Diese Sanktion ist das, was man als »Sisyphosarbeit« bezeichnet.
„Und weiter sah ich den Sisyphos in gewaltigen Schmerzen: wie er mit beiden Armen einen Felsblock, einen ungeheuren, fortschaffen wollte. Ja, und mit Händen und Füßen stemmend, stieß er den Block hinauf auf einen Hügel. Doch wenn er ihn über die Kuppe werfen wollte, so drehte ihn das Übergewicht zurück: von neuem rollte dann der Block, der schamlose, ins Feld hinunter. Er aber stieß ihn immer wieder zurück, sich anspannend, und es rann der Schweiß ihm von den Gliedern, und der Staub erhob sich über sein Haupt hinaus.“(Homer: Odyssee, 11. Gesang, 593–600)
Gemahnte nicht jede Anstrengung, jene Liebe in der Außenwelt zu finden, die man in sich selbst nicht »wahr«zunehmen vermochte, an das Schicksal des Sisyphos? Der Schmerzkörper geriet zur Triebkraft dieses Zwangs, des Zwangsverhaltens, der Qual, des Leids, dieser nicht endenden Geschichte ohne Happyend.
Die Sucht nach Spiegelung steht als Mal auf der Stirn geschrieben. Ein Display, das dazu auffordert: »Bitte folgen!« Folge meinen Ansichten, Vorlieben, Werten, Geschmäckern, Meinungen, Gedanken, Erzählungen usw.
Indem Sisyphos seine ganze Energie auf die Außenwelt, auf äußere Erfolge richtete, blieb er seiner inneren Ressourcen beraubt, sich selbst ein Leben lang fremd. So war er verdammt dazu, weiterzusuchen. Verbissen, zwanghaft, qualvoll, ein willfähriges Opfer seiner Weltkonstruktion.
Eigenartig. In mir wuchs allmählich die Erkenntnis, dass Narzissmus, die Gier nach den anerkennenden Reaktionen der Anderen, verbunden mit innerer Beziehungslosigkeit, weit mehr darstellte als die Pathologie einer »Persönlichkeitsstörung«, wie ich es gelernt hatte. Sie stellte die vorherrschende Lehrmeinung seit Kohut dar. Ich gewann den Eindruck, dass Phänomene des Narzissmus in jeder Persönlichkeit und in jeder Entwicklungsphase aufschienen, in unterschiedlichen Erscheinungsformen. Sie präsentierten sich ubiquitär, überall um mich herum.
Nahm das niemand wahr? Wenn selbst die tiefenpsychologischen Lehren den Wald vor lauter Bäumen nicht sahen, dann musste hier etwas im Dunkeln geblieben sein. Zeigte sich eine Schattenwelt, die nicht ebenso in der Geschichte der Psychotherapie wirkte?
In der Tat. Grandiositätsphantasien und befremdliche Prämissen zogen sich wie ein roter Faden von Freud über Jung und Reich bis in die aktuelle Generation von Therapeuten. Beispielsweise schrieb ein noch unbekannter 28-jähriger Freud 1885, lange vor der Psychoanalyse, an seine Verlobte: »Ich habe alle meine Aufzeichnungen seit 14 Jahren und Briefe, wissenschaftliche Exzerpte und Manuskripte meiner Arbeiten vernichtet ... Die Biographen aber sollen sich plagen, wir wollen’s ihnen nicht zu leicht machen. Jeder soll mit seinen Ansichten über die ‚Entwicklung des Helden‘ Recht behalten, ich freue mich schon, wie die sich irren werden«. (zit. Nach Ernest Jones: Das Leben und Werk von Sigmund Freud, Band 1: Die Entwicklung zur Persönlichkeit und die großen Entdeckungen 1856–1900. Bern, Stuttgart 1960, S. 10 f.)
Ähnlich bei Jung und Reich lassen sich Beispiele für Grandiositätsphantasien, Egomanie und Messianismus finden, Letzterer phanasierte sich in seiner späten Lebensphase entweder als Außerirdischer oder neuer Christus. Ein gewisser Grad von Berühmtheit kaschiert allzu bald die dahinter verborgene Grandiosität. Vielleicht bildet die Egomanie eine Voraussetzung jeder Entwicklung zur Popularität.
(Fortsetzung folgt)