SEINSORIENTIERTE KÖRPERERFAHRUNG (264): Der Großinquisitor des Gefühlslebens

Von Vkdberlin
 

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Schauen wir uns das Ritual der "Erklärung“ genauer an. In ihren Aussagen ist die Wahrheit über unsere ganze Kultur enthalten: Den Kindern wird vermittelt, dass es Erklärungen für Gefühle (hier für die Angst) gibt oder geben muss. Solche Vorstellungen vermitteln den Eindruck, als ob Emotionen nach dem Ursache-Wirkungs-Prinzip funktionieren. Es suggeriert, dass die logisch-rationale Gesetzmäßigkeit für ganze Gefühlswelten gilt. Typische Fragen lauten: »Warum weinst du? Warum hast du Angst? Warum bist du jetzt wütend?«
Eltern kennen die kindliche »Warum-Phase« zwischen dem 3.–4. Lebensjahr. Hier manifestiert sich die Absicht, die innerseelische Wirklichkeit mit der Wahrnehmung der äußeren Welt in Einklang zu bringen, beide Bereiche den Gesetzmäßigkeiten der Ursache-Wirkung-Logik zu unterwerfen. Wie nervtötend oder belustigend dieser Prozess auf Erwachsene auch wirken mag, er repräsentiert die besessene bis verzweifelte Anstrengung, die Realitätskonstruktion seiner Lebensumwelt  einzustudieren. Denn in dieser Lebensphase findet nicht nur die sog. »Ich-Entwicklung«, sondern ebenso der Prozess der Identifizierung mit der kulturellen Weltkonstruktion ihren Abschluss.
Dazu gehört die Vorstellung, dass Gefühle eine logische Ursache zu besitzen haben. Denn diese gelten nicht als unabhängig vom Denken, nicht als spontaner, vitaler Ausdruck des Selbst im Hier und Jetzt, nicht als natürliches Geschenk der Seele für Selbstregulation und Selbstheilung. Nein, Gefühle sind der Kontrolle des Verstandes zu unterwerfen. Wenn sie schon da sind, benötigen sie eine rationale Legitimation, ein Motiv. Ein Motiv, wie es in jedem Kriminalfilm der Täter benötigt, um verurteilt zu werden.
Der Verstand führt sich als Herrscher über das Gefühlsleben auf, als Großinquisitor der emotionalen Wirklichkeit. Der Ego-Verstand erklärt das eine Gefühl für akzeptabel, das andere für negativ, bedeutungslos, unwichtig, peinlich, animalisch oder wie auch immer das Urteil lautet.
Das Ganze ließe sich als ein „innerseelisches Patriarchat“ bezeichnen: Der Verstand, die Ratio, die Vernunft, die Wissenschaft usw. sind alles; Gefühl, Intuition, Instinkt, Körper, das spontan Lebendige, Authentische, die Natur in uns bilden das, was es zu beherrschen und zu unterwerfen gilt. Genauso sieht unsere Welt noch aus.
Dies alles lässt erahnen, wie grundlegend der Konflikt zwischen innerem Erleben und sprachlicher Veräußerung, Fühlen und Denken, Herz und Verstand angelegt wird.
Zudem bilden sich unterschiedliche persönlichkeits- und kulturspezifische Ausprägungen heraus, die es zu differenzieren gilt. Individuell dürfte das Verhältnis zwischen einfühlsamen Reaktionsmuster und verbal-logischen Kontaktabbrüchen prägend sein. Im kulturellen Kontext ließen sich Einflussfaktoren dessen entdecken, was als »Mentalität« bezeichnet wird.
Wie manche Lebensweisen kühl und nüchtern daher kommen, andere als emotional und temperamentvoll, so erscheint es plausibel, dass hier unterschiedliche Erziehungsstile auf einen Landstrich, ein Volk oder eine Nation einwirken. Identifizierungen mit gewissen Mentalitäten gelten unbewusst dem Erziehungsstil, den man selbst durchlaufen hat, stellen demnach kein Mysterium dar.
(Fortsetzung folgt)