Nach einer wahren Geschichte – Delphine de Vigan
Gehörig verwirrend geht es in Delphine de Vigans neuem Roman zu: Schon der Titel Nach einer wahren Geschichte lässt zwei Interpretationen zu. Entweder ist die Geschichte wahr oder nicht. Nun gibt es diese Diskussion darüber, ob ein Roman autobiographische Züge aufweist oder nicht, schon lange. Womöglich wurden Autoren schon wenigstens einmal mit dieser Frage konfrontiert, wieviel Wahres denn nun in ihrer Geschichte steckt. De Vigan liefert keine Antworten, sondern handelt solche Erwartungen des Lesers in all möglichen Facetten den gesamten Roman hinweg ab.
„Sie sprechen jetzt von Betrug. Aber die Leser lassen sich nicht gern betrügen. Sie wollen klare Spielregeln. Wir wollen wissen, woran wir uns halten können. Es ist wahr oder nicht wahr, Punkt, aus. Es ist eine Biographie oder reine Fiktion. Es ist ein Vertrag zwischen Ihnen und uns. Aber wenn Sie den Leser betrügen, nimmt er es Ihnen übel.“ (S. 326)
Zunächst richtet ein Ich-Erzähler, vermeintlich de Vigan, ihre Worte an den Leser und berichtet von ihren Schwierigkeiten, auch nur eine Zeile zu Papier zu bringen, die drei Jahre lang überdauern sollen. De Vigans Schreibblockade greift in immer mehr alltägliche Bereiche ihres Lebens: Nicht einmal mehr E-Mails kann sie beantworten. Doch ihre neue Freundin „L.“ eilt ihr zu Hilfe. Die Autorin hat L., der vollständige Name wird nicht preisgegeben, auf einer Party kennengelernt. Scheinbar zufällig taucht L. seit dem immer öfter in de Vigans Leben auf, eine tiefe Freundschaft entwickelt sich zwischen den beiden Frauen, vor allem die Leidenschaft zur Literatur verbindet sie. Merkwürdig erscheint der Autorin bis dahin nicht. Während de Vigans Schreibblockade sich fortsetzt und sie in eine immer tiefere Krise stürzt, bleibt L. an de Vigans Seite und hilft ihr in Momenten der Verzweiflung. Nicht nur die Schreibblockade zermürbt de Vigan immer mehr, auch anonyme Briefe, die immer verletzender werden, zehren an ihrer Kraft. L. ist die einzige Person, der sich de Vigan anvertraut, will sie doch ihren Partner und ihre Kinder nicht beunruhigen.
Zunächst wird die Geschichte einer wunderbaren Freundschaft erzählt, schnell jedoch schlägt diese in einen Thriller um, der nicht zufällig an Stephen Kings Misery erinnert. Zunehmend verschwimmen die Grenzen zwischen der Glaubwürdigkeit der Ich-Erzählerin und L. Wer schreibt hier nun? L. oder de Vigan? Und vor allem: Wieviel von Nach einer wahren Geschichte ist Fiktion und wieviel beruht tatsächlich auf einer wahren Geschichte? De Vigan erlaubt sich einen Scherz mit der Erwartungshaltung des Lesers und thematisiert sie auf einer Meta-Ebene, indem sie sie immer wieder zum Gesprächsthema werden lässt.
Interessant ist vor allem auch die Thematik, wie sehr Autoren von anderen Werken in ihrer Arbeit beeinflusst werden. De Vigan erfährt im Roman, dass L. sie hinters Licht geführt hat, indem sie ihr Geschichten als eigene Erlebnisse auftischte, die sich jedoch in de Vigans Büchersammlung im Wohnzimmer wiederfinden. Und hier kommt der Aha-Effekt: Auch Nach einer wahren Geschichte beruht auf Geschichten, die schon einmal geschrieben und veröffentlicht wurden. Wir erinnern uns nun an dieser Stelle an Stephen Kings Misery, um nur ein Beispiel von vielen zu nennen. Nichts ist wirklich neu, nichts ist reine Fiktion lautet das Credo im Roman.
In Nach einer wahren Geschichte verarbeitet de Vigan geschickt das Verlangen der Leser nach einer wahren Geschichte und treibt diesen immer wieder in Sackgassen. Sobald er etwas verstanden hat, ändert de Vigan ihre Perspektive und lässt den Leser letztendlich mit einer verworrenen Schlusspointe zurück.
Delphine de Vigan: Nach einer wahren Geschichte. Aus dem Französischen von Doris Heinemann. Dumont. Köln 2016. 23,00 Euro.