Jetzt trinken die doch tatsächlich Cola vor den Kindern!, ließ sie mich entrüstet wissen. Ich starrte sie nur desinteressiert an. Seit einigen Minuten wartete ich vor dem Klassenzimmer meines Kindes, wollte mit der Lehrerin einige Satzfetzen wechseln, als sie, die Entrüstete, sich dazugesellte. Vermutlich eine Mutter, dachte ich mir. Dann liefen drei oder vier Schulamtsanwärterinnen an uns vorbei in die Klasse. Und dort muß die tollkühne Aktion geschehen sein. Ich selbst sah es nicht, wollte es auch nicht gesehen haben; die vermutliche Mutter lugte jedoch verstohlen durch die Klassenzimmertüre und ließ mich wissen, welch infame Tat sie eben beobachtet habe Trinken die doch tatsächlich Cola vor den Kindern!, ereiferte sie sich. Ihr Eifer war mir gleichfalls so peinlich wie verachtenswert - was interessiert mich der Koffeinkonsum anderer Leute, fragte ich mich; gehen Kinderseelen zu Bruch, wenn sie zusehen müssen, wie junge, aber dennoch erwachsene Frauen, an der schwarzen Brause nippen, rätselte ich still vor mich hin.
Dieser Eifer, dieser Muttereifer, der mich fraternisieren wollte, der an meine Vaterschaft appellierte, an meine Vaterempörung, er stieß mich ab. Das ist genau die Sorte Elter, die ich nicht leiden kann, die mir das Gefühl geben, ich sei nicht ausreichend väterlich, sei so ein Scheißegalelternteil ohne Bezug zu Kindern, ohne Rücksicht auf Kindesbedürfnisse. Diese elterliche Glut, die da in manchem Elter steckt, sie verängstigt mich - dieser Drang, immer perfekt sein zu sollen, als Elternteil nie zu verfehlen, stets das Richtige zum richtigen Zeitpunkt in richtige Worte gepackt anzubringen: das wirkt auf mich nicht fürsorglich, es scheint mir eher eine etwas verquere Gemütserkrankung zu sein. Was will man seinen Kindern denn da vorgaukeln? Die menschgewordene Perfektion? Will man seinem Nachwuchs zur Kenntnis geben, dass Vater und Mutter stets unantastbar sind, weil sie in Gegenwart ihrer Kinder auf zuckerlastige Getränke verzichten?
Deren Kinder können einem wahrlich leidtun. Neben einen unübertroffen vorbildlichen Elternteil aufzuwachsen: es nähme nicht wunder, wenn dies einen satten Minderwertigkeitskomplex speiste. Empfindet sich der noch tapsige Mensch nicht schnell als unzureichend, wenn er täglich einen Elternautomaten dabei beobachten muß, wie dieser alles richtig macht, alles richtig sagt, alles richtig fordert, sich richtig empört und im richtigen Moment Emotionen hinunterschluckt? Immer vernünftig sein, bis in den kleinsten Winkel des menschlichen Miteinanders, bis hin zum Genuss von Cola: ist das moderne Erziehung? Ist es das, was das Unfehlbarkeitsprimat mancher Eltern will: ein unter Zwängen und Mangelhaftigkeit krankendes Kind? Einen sich unzureichend wähnenden kleinen Menschen, der auf seine unfehlbaren Eltern starrt, dieses Uhrwerk aus Vater und Mutter, das fehlerlos tickt, fehlerlos vorlebt, fehlerlos Vorbild ist?
Häufig könnte der Eindruck entstehen, dass moderne Väter und Mütter nichts Menschliches mehr an sich haben dürfen - das heißt, natürlich dürfen sie ganz menschlich-adrett nett und liebevoll sein; aber menschlich-schwächlich sollten sie lieber nicht sein. Keine Laster, keinen Makel - alles soll astrein glänzen; kein "Scheiße!" darf aus dem Mund rutschen, kein "Verdammt nochmal!" soll in Kinderohren schallen - und nie den Kopf verlieren, immer sachte, immer bedächtig. Vor Kinderaugen raucht man nicht, selbst im Freien nicht; man trinkt kein Coke und man benutzt das Vokabular eines Klosterschülers - kurz gesagt, man übt sich im Papsttum: in Unfehlbarkeit nämlich; man sollte ex cathedra unantastbar werden. Was dem Papsttum in säkularisierten Kreisen als Größenwahn unterstellt wird, ist in manchen vier Wänden akzeptierter Standard. Und an der Richtigkeit dieser geschauspielerten elterlichen Perfektion darf nicht gerüttelt werden: ihr Gesinnungsterror gilt als vorbildlich; an solchen Mustereltern wachsen Kinder schließlich.
Nur zu was wachsen sie heran? Oder was wächst in ihnen heran? Sicher, nicht alle werden an der Perfektion ihres Elternhauses zerbrechen - aber viele tun dies eben schon. Oft wundert man sich, dass Kinder aus dem, was man ein gutes Elternhause nennt, nicht wohlgeraten sind; dann fragt man sich, wo die Eltern versagt haben. Schnell hat man Urteile parat. Eine härtere Gangart hätte es rechtzeitig gebraucht, heißt es dann nicht selten. Kaum jemand denkt daran, dass die gesinnungsterroristische Perfektion der Eltern schuldig sein könnte. In einem fortwährenden Klima aufzuwachsen, in dem sich Aalglattheit, manische Höflichkeit und der Drang, unfehlbar zu wirken, partikularistisch abwechseln: das kann doch nicht gesund sein! Man braucht Reibungspunkte - und das Kind muß lernen: meine Eltern machen Fehler wie ich; es soll erkennen dürfen: meine Ollen wissen, was es heißt zu versagen, nicht richtig zu liegen, zu scheitern...
Eltern als Menschen, nicht als tadellose Automaten; Eltern als Menschen mit Schwächen: das wäre ein Erziehungsansatz! Das täte manchem Kind besser, als das penible Herausstellen elterlicher Perfektion und Vorbildfunktion in allen Lebenslagen. Gemeinhin stellt es die zeitgemäße Pädagogik gerne so dar, als würden schwächelnde Eltern die Kinder verunsichern - ihnen vielleicht sogar fürs gesamte spätere Leben Schaden zufügen. Stets abgeklärt zu reagieren, Schwächen zu kaschieren, Vorbild bis zum Exzess zu sein: das sei moderne und effektive und kindgerechte Erziehung, die ihre Zwecke blendend erfüllt. Paradox zu sein allerdings, das heißt, vor Laster zu warnen, gleichfalls aber Laster zu leben: das wird verpönt, weil es inkonsequent sei und den Erziehungsberechtigten fraglich erscheinen ließe. Das Wesen des Menschen ist aber paradox und insofern wäre eine Zurschaustellung der Paradoxie nicht unpädagogisch: es wäre menschlich und würde Kindern aufzeigen, dass niemand unausweichlich unfehlbar ist, dass das Scheitern und das Unzureichendsein zum Konzept eines jeden Lebens gehört.
Fehlbaren Eltern kann man auf Augenhöhe begegnen; unfehlbare Eltern schauen stets auf einen herab - in die Fußstapfen fehlbarer Eltern kann man steigen; in die unfehlbarer Eltern nicht, man wird sich immer zu schlecht, zu plump, zu minderwertig vorkommen - fehlbaren Eltern vertraut man Fehler eher an, auch später, wenn man die schmerzhaften Fehler des Erwachsenenlebens begangen hat; vor unfehlbaren Eltern veranstaltet man stets eine Posse, um den eigenen Makel zu verbergen. Fehlbar sein, allzumenschlich sein: so vermehret euch!