von H.-P.-Schröder
Wichtiger als ein Gedicht ist dessen Interpretation, die seine Wirkung begründet. Gewirkt hat er, der Altmeister. Manche meinen, der so lange aufgebaute Druck habe sich leider in einem Aufruf Bahn gebrochen, der mit zu verdünnter Tinte geschrieben sei. Mag sein. Wir sind Herrn Grass dankbar.
In zwei Interviews hat Günter Grass seine eigene Interpretation und seinen Text in einen breiteren und höheren Rahmen gestellt und mehr Hintergrund geliefert. Seine Kollegen schweigen.
Viele Stimmen versuchen fortwährend, sich zum Thema Gehör zu verschaffen. Zensur des Andersdenkenden ist Alltag in Deutschland und die Gleichschaltung der veröffentlichten Meinung eine Tatsache. Eine Gleichschaltung, die ohne das Mitwirken zahlreicher dienstbarer Geister nicht durchführbar ist. Die eigentlichen Drahtzieher, die Verführer und Druckausüber, das sind zwei Handvoll, nicht mehr. Und die sind bekannt.
Wahrscheinlich weiß Herr Grass dies nicht, wahrscheinlich ahnt er es, wahrscheinlich scheut er vor dem Bild zurück. Sich der im ersten Augenblick erschreckenden Erkenntnis der mafiösen Verhältnisse zu stellen, die im zum absoluten Ideal verklärten, ausgehöhlten Demokratiekörper ihr Ratten- und Schattendasein führen, würde Herrn Grass die Energien zuführen, die notwendig sind, um das Unpräzise des Textes, die Reibefläche an der die Umdeuter herumkratzen, in pointierte Eindeutigkeit zu verwandeln, in klarer Sprache eindeutig formulierte und deutlich ausgesprochene Ursachen- und Wirkungsanalyse.
Seit Wochen sitze ich an einem Text über die Weltkultur, über die faszinierende Vielfalt, die die Kultur unseres Planeten ausmacht. Die letzte Änderung am Text erfolgte am 2. April. Das Kapitel „Deutschland-Licht von Mitternacht“ handelt vom Versagen der Künstler. Eine Passage daraus:
„Intellektuelle und Künstler, die im öffentlichen Raum herumhopsen, haben versagt. Grass schweigt, Walser schweigt, Wallraff schweigt, Staeck schweigt. Ihr Schweigen klingt derart subtil, sie könnten bereits tot sein, niemand würde es bemerken, niemand würde sich daran stören.
Sie repetieren Verlangtes über die Vergangenheit, fliehen im Inneren des trojanischen Pferdes über Hinhaltestöckchen, flüstern an hohen Feiertagen per Grabenfunk unerhörte Botschaften zur Gegenwart mit einem kessen Hauch Sozialromantik, – wenn es hoch kommt – hören Sie `was ? – , und ihre Ansichten über Zukünfte orientieren sie an ihrem Schweigen zur Gegenwart. Sie besitzen Talent, beherrschen ihr Handwerk, hätten Einfluss und haben nichts zu sagen. Ist das nicht tragisch ? Das Schweigen aus dem Walde. Das Imperium tötet Millionen, der Vater der Lüge hat auf dem Thron Platz genommen und der Butt weiß nichts davon? Ist das nicht traurig?
Diejenigen die Partei ergreifen und am Puls der Zeit artikulieren, wandern hinter Gefängnismauern oder in das berufliche Abseits. Auch dazu schweigt unsere intellektuelle Elite.“
Ich wünsche mir sehnlichst, daß viel mehr Schriftsteller, Maler, Musiker, Künstler, Philosophen und Wissenschaftler Position beziehen gegen den Ungeist der Zeit. Wenn wir unter Schuldkuratel bis in das dritte, oder zehnte, oder fünzigste Glied gestellt werden, wenn wir uns unter Schuldverantwortung gestellt sehen, wegen Verbrechen der Väter und dem Schweigen des Volkes, dann ist es logisches Gebot der Stunde, daß wir, daß alle, um einen erneuten Vorwurf dieser Art zu vermeiden, laut, deutlich und klar gegen die Verbrechen der Gegenwart Stellung beziehen und uns jedweden Versuches der Relativierung widersetzen. Die Zukunft der Menschheit könnte davon abhängen. Sehr geehrter Herr Grass, bitte werden Sie deutlicher. Vielen Dank.