Sehen und weiterziehen

Von Lukas Röthlisberger @Adekagabwa

Hallo, ist hier jemand? Es gibt viele Orte, wo niemand ist. Stille Nadelwälder, karge Alpengrate oder unwirtliche Schluchten. Und wenn heute keiner da ist, so könnte man sich fragen: war hier überhaupt schon irgendwann mal jemand?

Ich stelle mir eine ungewöhnliche Landkarte vor, in der durch die Farbschattierung markiert wurde, wie oft an jeder Stelle schon ein Mensch seinen Fuß auf den Boden gesetzt hat. Dann färbe ich im Geiste die Karte ein – in den Städten ist es ganz dunkel, ja schwarz. Denn hier stehen, sitzen und liegen die Menschen zu Hauf. In den Hochhäusern treten sie über dutzende Stockwerke sogar auf dem gleichen Quadratmeter aufeinander ein. Dann betrachte ich den Wald am Stadtrand. Gibt es hier einen Zentimeter, der noch nie berührt wurde? Mit Sicherheit nicht. Die Wälder werden intensiv bewirtschaftet, die Bäume sind markiert und gezählt, alles gehört jemandem. Aber die Farbe auf der Karte wäre zumindest etwas heller. Und wie ist es auf dem See? Die europäischen Seen sind so voller Schiffe, da ist kein Fleck jungfräulich. Aber in den Schneebergen? Im Himalaja gar? Oder in der Sahara vielleicht? Im Stillen Ozean? Gibt es sie noch, die weißen Flecken?

Vor 10.000 Jahren lebten auf der ganzen Welt, von der Hudson Bay bis zum Beagle Kanal und von Nippon bis zu den Azoren gerade mal eine Million Menschen – also etwa so viele wie heute zum Beispiel allein in Köln. Da es damals kaum Menschen gab, hatten die Gegenden auch keine Namen. Die Menschen waren zwar dauernd unterwegs, sie jagten und verbreiteten sich – aber kein See und kein Berg, kein Dickicht und keine schöne Auenlandschaft bekam ein Vokabel. Alles war einfach da und spontane Bezeichnungen verschwanden beim weiterziehen wieder.

Erst nach und nach erschufen die Geschichte(n) und die Mythen, der Besitzstand und die Herrschaftsansprüche Namen. Dort wo die Franken den Fluss gut überqueren konnten war die Frankfurt, dort wo die hinduistische Göttin Kali ihr schwarzes Tor hatte, war Kalkutta und dort, wo die Luft gegenüber den Malariasümpfen gut schien war der Platz genannt Buenos Aires.

Nun, heute ist jeder Quadratmeter mit Erinnerungen unserer Vorfahren zugepflastert.

Wie wäre es, wenn wir zwischendurch diesen Wulst an Erinnerungen wegschieben würden? Wenn wir es ein bisschen unsere jagenden Vorfahren gleichtäten: die Dinge, die Orte, die Landschaft – alles ganz unvermittelt und unbenannt in sich einatmen? Kann man dieses unbeschwerte Wahrnehmen wiederbeleben?

Sehen und weiterziehen. Das Bild oben zeigt, wie einfach das ist.


Vor zwanzigtausend Jahren / 20cm x 30cm / Filzstift auf Landkarte / 2007, Nr 07-083

Der See Titicaca – Titi heisst „Puma“ und Kaka bedeutet „grau“.

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