3.1.2012 – Gestern hat Sebastian Nerz, Bundesvorsitzender der Piratenpartei, der „Passauer Neuen Presse“ ein Interview gegeben, das innerhalb und außerhalb der Partei für Irritation sorgt. Nerz spricht von einer bundespolitischen „Traumkonstellation“ mit den Grünen und der FDP und betont, man könne „im Großen und Ganzen gut mit den kleinen Parteien, wenn man einmal von der Linkspartei absieht“.
Auf die rasch einsetzende, auch innerparteiliche Kritik reagiert der Bundesvorsitzende und frühere CDU-Politiker beleidigt und behauptet, im Interview „gar keine Koalitionsaussage getroffen“ zu haben.
Weder rechts noch links
Das Interview, das Rasmus Buchsteiner für die „Passauer Neue Presse“ mit Sebastian Nerz führte, ist kurz. Es umfasst gerade einmal sieben überschaubare Fragen und bemüht sich, wie fast jedes Gespräch mit den Chefs der Piraten, herauszuarbeiten, für welche politische Richtung die Partei eigentlich steht.
Während dieser Versuch in der Regel an ausweichenden Antworten, Scherzen oder einer ewigen Wiederholung der These vom überholten Schubladendenken scheitert, erhält Buchsteiner erstaunlich klare Positionsbestimmungen von Sebastian Nerz.
Der Bundesvorsitzende fühlt sich in Sachen Bürgerrechtspolitik mit der FDP und den Grünen verbunden. Sozialpolitisch sieht er die PIRATEN in der Nähe der SPD. Insgesamt könne man gut mit den kleinen Parteien, „wenn man einmal von der Linkspartei absieht“.
Deutlicher lässt sich die bundespolitische Verzichtbarkeit auf die PIRATEN kaum zum Ausdruck bringen. Wenn sich die konsequent bürgerrechtlich und freiheitlich geprägten Grundsätze der Partei bereits jetzt in den angestaubten Programmen der sterbenden FDP und der opportunistischen Grünen wiederfinden und wenn sie sich auf sozialpolitischer Ebene ausgerechnet bei der Agenda-2010 SPD heimisch fühlt, dann stellt sich die Frage, wozu man die Piratenpartei überhaupt noch braucht.
Und Nerz wird noch deutlicher. Auf die Frage nach Koalitionen, für die sich die PIRATEN ab 2013 zur Verfügung stellen würden, sagt der Bundesvorsitzende:
„Meine Traumkonstellation wäre immer eine Koalition mit Grünen und FDP. Aber man muss auch realistisch sein: Dafür ist eine Regierungsmehrheit nun wirklich nicht in Sicht.“
Mit anderen Worten: Wäre diese Option nicht unrealistisch, dann würde Nerz seine Partei inmitten einer bürgerlichen und neoliberalen Regierung sehen, die sich für eine Umverteilung von unten nach oben einsetzt, die Wirtschaftskonzerne und Besserverdiener begünstigt, die Kriegseinsätze der Bundeswehr und immense Rüstungsexporte befürwortet und deren hauptsächliches Klientel jene Eliten sind, die sich das „schöne, neue und ökologische Leben“ in unserer Gesellschaft leisten können.
Selbst mit der SPD würde Nerz eine Koalition nicht ausschließen, wenn sie sich nur gegen die Vorratsdatenspeicherung stellen würde:
„Ein mögliches rot-grün-orangenes Bündnis könnte an dieser Frage scheitern. Wir werden keinen Koalitionsvertrag unterschreiben, in dem eine Fortsetzung der Vorratsdatenspeicherung vorgesehen ist.“
Auf die Frage, ob die Piraten links sind, antwortet Nerz zunächst in gewohnt ausweichender Weise: „Wir sind weder rechts noch links“, um sofort zu ergänzen, dass die PIRATEN von Politikwissenschaftlern „irgendwo zwischen der FDP und der SPD“ verortet würden.
Differenzen sieht er lediglich mit der Union, da man sich in Sachen innere Sicherheit und Sozialpolitik uneins sei. Abgesehen von diesen beiden Themen scheint Nerz selbst hier keine unüberwindlichen Hindernisse zu erkennen.
Im Ergebnis vermittelt der Bundesvorsitzende das folgende Bild: Im Prinzip kann man mit jeder Partei, solange sie sich nur gegen die Vorratsdatenspeicherung stellt und nicht links ist.
Der „Shitstorm“ danach
Ganz wohl scheint es Nerz bei seinem Interview nicht gewesen zu sein. Bereits gestern Mittag veröffentlicht er auf seiner persönlichen Webseite einen Blogbeitrag, in dem er gekränkt auf den „Shitstorm“ reagiert, der dem fast zeitgleich erschienenen Interview folgte. Kritikern seiner Äußerungen wirft er vor, „aus Prinzip auf den Bundesvorstand“ zu schießen. Dabei habe er ja nicht einmal eine Koalitionsaussage getroffen.
Und überhaupt: Die Frage nach angestrebten Koalitionen sei unsinnig und hätte für Parteivorsitzende in etwa die Relevanz von „Was tragen Sie denn heute?“. Auf eigenwillige Weise begründet Nerz seine Antwort:
„Jedem sollte klar sein, dass eine Koalition Grün-Orange-Gelb 2013 nicht möglich sein wird. Meine Antwort ist also eine bewusste Nullaussage.“
Anders gesagt: Wenn der Bundesvorsitzende in der Presse eine Frage beantwortet, die er für unsinnig hält, dann soll sich das Publikum gefälligst denken, dass es sich bei seiner Antwort ebenfalls um Unsinn handelt. Auf die Möglichkeit, eine solche Frage einfach zurückzuweisen oder zu erklären, warum er sie für unsinnig hält, kommt Nerz nicht.
Dementsprechend fallen auch die Kommentare unter seinem Blog aus. Hier wirft man ihm beispielsweise vor, der „FDP ohne Not eine Art Wiederbelebungsmaßnahme zuteil“ werden zu lassen, die „großen, rebellischen Gedanken“ beiseite zu legen, sobald man „mit den Großen mitspielen“ darf oder ein „unüberlegtes und unprofessionelles“ Interview gegeben zu haben.
Ein Kommentator merkt an, dass wenn die Frage nach Koalitionen nicht wichtig gewesen sei, es auch nicht wichtig sein könne, die Linkspartei dezidiert auszuschließen, was Nerz dennoch getan habe. Ein anderer wirft Nerz in der Diskussion um die Wirkung des Interviews „beleidigt und arrogant wirkende Polemik“ vor:
„Als ob du der einzige Pirat wärst, der jemals ein Interview gegeben hätte – und als ob es zwischen deiner missglückten Antwort und dem Abbrechen von Interviews keinen Spielraum gebe.“
Nerz verharrt in der Pose des gekränkten und falsch verstandenen Vorsitzenden und lamentiert beleidigt:
„Na ja, nächstes Mal antworte ich eben mit „Die Frage ist unsinnig“ und breche das Interview ab, falls der Journalist auf einer Antwort besteht. Dann gibts eben gar keine Berichte mehr über die Piratenpartei.“
Anders gesagt: Wenn Euch nicht passt, was ich sage, dann sage ich eben künftig gar nichts mehr und Ihr werdet schon sehen, was Ihr davon habt. So sieht also das resümierende Statement des Vorsitzenden einer Partei aus, die ursprünglich angetreten ist, um Schluss zu machen mit Parteifilz, Fraktionszwang, Intransparenz und Postdemokratie.
Repräsentiert Nerz seine Partei?
Nicht zum ersten Mal sorgt Sebastian Nerz mit öffentlichen Äußerungen für Irritationen und Auseinandersetzungen innerhalb und außerhalb seiner Partei. Dabei hat es der Vorsitzende bislang meist vermieden, sich konkret zu politischen Positionen zu äußern, über die es bei den PIRATEN bisher keinen Konsens gibt. Jeder hat das ewige „Hierüber haben wir uns noch keine Gedanken gemacht“ noch gut im Ohr.
Auch seine Position in Bezug auf ehemalige NPD-Politiker in der Partei sorgte für Kontroversen. Nerz hatte sich dafür eingesetzt, die Nazi-Vergangenheit einzelner Mitglieder als „Jugendsünde“ zu betrachten und den Betreffenden eine zweite Chance zu gewähren.
Anders sieht er das in Bezug auf die jüngsten Aktivitäten von „Anonymous“. Die Hackergruppe hatte sich über die Rechner des Sicherheitsberatungsdienstes „Stratfor“ Kreditkartendaten beschafft und mehr als eine Million US-Dollar als Weihnachtsspenden an gemeinnützige Einrichtungen verteilt. Nerz hatte daraufhin gesagt:
„Das ist Diebstahl. Das halte ich persönlich nicht mehr für jugendlichen Leichtsinn.“
Eine Position, die einerseits Rechtsextremismus als Jugendsünde verharmlost und andererseits den Hacker-Angriff auf ein US-Unternehmen, das häufig als „Schatten CIA“ bezeichnet wird, undifferenziert als puren Diebstahl zu geißeln, dürfte in weiten Teilen der Piratenpartei nicht gerade auf Zustimmung stoßen.
Dabei ist Nerz in Bezug auf „zweite Chancen“ selber auf den guten Willen seiner Parteikollegen angewiesen. Immerhin war er zwischen 2001 und 2009 Mitglied der CDU und kandidierte 2004 erfolglos für den Tübinger Stadtrat. Erst 2009 wechselte er die Partei und absolvierte bei den PIRATEN eine fulminante Karriere. Bereits im gleichen Jahr wurde er dort Beisitzer des Bezirksverbands Tübingen und Koordinator der Arbeitsgemeinschaft Landespolitik im Landesverband Baden-Württemberg. Im April 2010 wurde er dessen Vorsitzender und im Mai 2011 wurde er zum Bundesvorsitzenden der Piratenpartei gewählt.
Nerz Äußerungen über künftige Koalitionen, seine beleidigte Reaktion auf mangelnden Rückhalt seitens der Partei und seine strikte Ablehnung einer Zusammenarbeit mit der Linkspartei legen die Vermutung nahe, dass in der Brust des Vorsitzenden noch immer das Herz eines CDU-Politikers schlägt. Die achtjährige Mitgliedschaft in der Union, die Nerz erst im Alter von 27 beendete, spricht jedenfalls weniger für eine „Jugendsünde“ als für die Bemühungen eines jungen Mannes um eine politische Karriere, in welcher Partei auch immer.
Bleibt die Frage, inwieweit Nerz tatsächlich die Position der PIRATEN vertritt. Der Vorsitzende zieht sich bei aufkommenden Kontroversen gerne auf den Standpunkt zurück, dass er sich auch als Chef der Partei immer nur in seiner Rolle als Privatperson äußern würde. So naiv, dass er glauben könnte, seine öffentlichen Äußerungen würden innerhalb und außerhalb seiner Partei nicht vor allem auch als offizielle Statements gewertet, kann Nerz, bei aller vordergründigen Harmlosigkeit, nicht sein.
Handelt es sich bei dem, was Sebastian Nerz im Interview mit der „Passauer Neuen Presse“ gesagt hat, tatsächlich um die offizielle Parteilinie, dann sind die PIRATEN mit dem gestrigen Tag überflüssig geworden. Wer braucht schon eine weitere Kleinpartei, die sich irgendwo zwischen FDP und SPD an die Grünen hängt, die sich sozialpolitisch in der Nähe der SPD sieht und die, trotz aller inhaltlichen Übereinstimmungen, ein Bündnis mit der Linkspartei kategorisch ausschließt.
Ein Blick in das Parteiprogramm der PIRATEN sagt etwas gänzlich anderes. Hier tritt man für politische Transparenz, direktere Demokratie, ein revolutionäres Urheberrecht, eine uneingeschränkte Teilhabe aller am digitalen Leben, eine uneingeschränkt geschützte Privatsphäre, das Grundrecht auf sichere Existenz und gesellschaftliche Teilhabe, eine moderne Geschlechter- und Familienpolitik und eine ausgeprägte Informationsfreiheit ein.
Wenn die PIRATEN sich nach wie vor zu diesen Zielen bekennen, dann sollten sie ihren Bundesvorsitzenden schnellstmöglich zurückpfeifen und ihn durch jemanden ersetzen, der in der Lage und Willens ist, den ursprünglich revolutionären Charakter der Partei deutlich zu kommunizieren.
Jüngere Grüne oder modernere Freidemokraten braucht in Deutschland kein Mensch und wenn die PIRATEN das vor 2013 nicht verstehen, dann erübrigen sich Erwägungen über künftige Koalitionen ohnehin.