Screenology #47: Rabbit Hole

Screenology #47: Rabbit Hole

(Collage: Emma Isacson)

Wir warten auf den Lift. Meine Mutter schweigt, also fahre ich fort: „Und das tut verdammt weh.“ Sie schaut auf: „Was?“ Ich wiederhole: „Sie suchen keinen Trost in Schuldzuweisungen, wollen keine Zuckerwattensprüche von verständnisvollen Mitmenschen und gehen mutig auf der Linie zwischen Verlustkult und Verdrängung. Sie stellen sich der eisigen Leere des Warum, schieben keinen kuscheligen Schicksalsgott vor und umgehen grossräumig den Sumpf des Selbstmitleids.“

Becca und Howie trauern. Ihr Kind ist gestorben. Der Film ging unter die Haut, gerade weil er nicht dramatisiert.

Meine Mutter wirkt nachdenklich. Gewöhnlich reagiert Wirbelmama auf jede Herausforderung des Lebens mit einem überschäumenden Aktionismus. Nachdenklichkeit gehört nicht zu ihren bevorzugten Lebensbewältigungsstrategien. Ich blicke sie fragend an. Sie sagt leise: „Das Leben geht unaufhaltsam weiter. Die Pflanzen wachsen. Die Autos fahren an. Auf dem Spielplatz schreien die Kinder. Seltsam. Darum gibt es Schweigeminuten. Die Welt sollte stehen bleiben.“

Ein Ehepaar – grandios gespielt von Nicole Kidman und Aaron Eckhart – hat vor acht Monaten seinen fünfjährigen Sohn verloren. Damals ist ihre Welt aus dem Tritt geraten. Irgendwie haben sie aber geschafft, den Blick auf die Schönheit des Lebens zu bewahren. Er geht arbeiten. Sie pflegt den Garten. Jeder trauert anders. An kleinen Stellen des Tages.

Die Lifttüren öffnen sich. Wir treten ein. Sie sagt: „Das Leben geht unaufhaltsam weiter.“ Ich frage mich, woran sie denkt. An wessen Tod sie denkt. Sie fügt hinzu: „Ohne zu sagen, wie.“ Ich sage: „Wie hat dir der Film gefallen?“ – „Gut“, antwortet sie. Dann: „Ich möchte keine Filme sehen, in denen ein Kind stirbt.“ Der Lift gleitet hinunter. Die Kabine zittert. Wir sprechen nicht mehr, bis der Lift anhält, die Türen aufgehen und wir durch die stechende Autoluft des Parkhauses gehen.

Ich rede, um den Hall der Stille vergessen zu machen. „Von Beginn weg war da ein Unwohlsein im Film. Es war klar: Da stimmt etwas nicht. Da ist etwas verschoben. Dieser Alltag ist gespielt, die Leichtigkeit aufgesetzt. Die Gesten sind Gewohnheiten, die nicht mehr gefühlt sind. In den Rissen der lebensrettenden Masken zeigt sich die Tragik des Weitermachens. Das ist Schauspielkunst vom Allerfeinsten und unglaublich berührend gefilmt.“

Ich mache eine Pause. Meine Mutter steckt sich eine Zigarette in den Mund. Dann spreche ich weiter: „Gerade eben weil sie so respektvoll miteinander umgehen und sich sogar über das Glück der Anderen freuen, dröhnt der grausame Verlust in allen Ritzen und bringt jede Szene, auch die humorvollen, in Schwingung. Und gerade dieser Humor, der den ungebrochenen Lebenswillen verrät, verschafft dem Film eine intime Ehrlichkeit, die einem nahe geht. Das liegt wohl auch an dem super Drehbuch: an den intelligenten Weglassungen und den lebensechten Dialogen. Sag mal, wie fandest du den Schluss?“

Meine Mutter murmelt irgendeine Bestätigung und lässt die Schlösser der Autotüren aufschnappen. Wir steigen ein. Sie zögert. Zwischen ihren Lippen hängt die Zigarette. Ich gebe ihr Feuer. Sie raucht. Dann sagt sie: „Ich habe dir nie gesagt, dass du nicht immer ein Einzelkind warst.“ Ihre Hand geht zum Zündschlüssel. „Dass du mal eine Schwester hattest.“ Sie startet das Auto, fährt aus dem Parkfeld und mir ist, als stände ich noch dort neben dem Auto und sähe zu, wie die Rücklichter um die Ecke verschwinden.

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Rabbit Hole, USA 2010, Regie: John Cameron Mitchell, Schauspieler: Nicole Kidman, Aaron Eckhart, Dianne Wiest.

Kinostart CH: 12. Mai 2011

 


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