(Illustration: Emma Isacson)
„Ich fand den Film mässig“, sagt Barbara, schenkt sich Mineralwasser ein, nimmt das Glas in die Hand, starrt es an, hält es schief, wie um nachzuprüfen, ob sich darin wirklich Wasser befindet, setzt es an die Lippen und stellt es wieder hin, ohne einen Schluck genommen zu haben. „Ja, natürlich, es ist Scorsese. Ja, es ist grosses Kino. Und es ist viel Kino. Sehr viel Kino. Aber nach dreissig Minuten ist ziemlich klar, welche überraschende Wendung die Geschichte nehmen wird. Stur werden Anzeichen aneinander gereiht, damit man ja dahinter kommt. Am Schluss wird in langen Szenen eine Erklärung nachgeliefert, die in zwei, drei Einstellungen plausibel genug gewesen wäre. Vielleicht bin ich einfach auch zu müde. Seit Wochen schlafe ich nicht durch. Der Kleine schreit. Und der Verdacht, dass mich Johnny betrügt, frisst mir jeden klaren Gedanken. Ich kann nicht mehr. Jede seiner Regungen gilt der Geliebten, von der ich gar nicht sicher bin, ob es sie gibt. Für mich jedenfalls bleibt nichts mehr übrig.“
US-Marshal Teddy Daniels (Leonardo DiCaprio) und sein Partner (Mark Ruffalo) werden 1954 beauftragt auf Shutter Island, einer kleinen Insel mit einer Nervenheilstand für kriminelle Geistesgestörte, das mysteriöse Verschwinden einer Patientin aufzuklären. Dr. Cawley (Ben Kingsley) und Dr. Naehring (Max von Sydow) stehen unterstützend und vertuschend zur Seite. Bald ist klar, hier geht es um andere Probleme. Probleme grösserer Tragweite oder Probleme persönlicherer Natur, je nach Sichtweise. Bald ist hingegen nicht mehr klar, wer hier wen verfolgt, wer hier wirklich verrückt ist und welche Bilder dem Wahn und welche dem realen Erleben zuzurechnen sind.
„Johnny betrügt dich?“, stottere ich. Barbara winkt ab: „Ach was, ich weiss es nicht, wahrscheinlich nicht, vielleicht doch, ich traue mir nicht, ich traue ihm nicht, ich kann nicht schlafen, der Kleine schreit. Die Bilder mit den Kindern, die tot im See dahin treiben, waren unerträglich. Können wir uns mal einen Film anschauen, in dem keine Kinder sterben?“
„Mir hat der Film gefallen“, sage ich und bin froh, dass wir das Thema wechseln. „Ich glaube, es ist Teil des Spiels, dass wir ahnen, in welche Richtung sich die Realitäten verschieben werden. Ganz sicher ist man sich dann doch nicht, und genau von dieser Ambiguität lebt der Film. Daher seine künstlich wirkende Bilderwucht. Wir können uns nie sicher sein. Der Film setzt uns in eine Welt, die uns keine Realität vorgaukelt, sondern seine Fragilität zum Thema macht. Der Film – wie könnte es anders sein bei Scorsese – ist auch ein Film über Film.“
„Ah ja? Wie meinst du das?“, sagt Barbara scharf und schaut mich an, als wäre ich Johnnys Geliebte. „Ehm, nun ja“, sage ich unsicher. „So wie Teddy Daniels nach Erklärungen sucht, den Verschwörungstheorien verfällt, seine Schuld verneint, so verhalten wir uns auch als Zuschauer. Wir verfallen gar schnell der Geschichte auf der Leinwand, gefallen uns als verängstigte Unbeteiligte, liefern uns den Bildern aus, prüfen vage die Plausibilität der Geschichte, lassen uns durch die Autorität des Filmes bereitwillig vom Plot, und sei er noch so abstrus, verführen und kuscheln uns in die Rolle des Opfers. Und so ist die Shutter Island aufgebaut: als Rollenspiel. Was uns zu Beginn unnatürlich scheint, ist in Tat und Wahrheit unnatürlich. Er füttert uns mit Erklärungen, die wir nicht essen wollen. Immer wieder. Das bringt die ganze Insel zum Zittern.“
Barbara hält sich ihr leeres Glas vor das Gesicht und starrt mich an. Dann sagt sie: „Der Film handelt von Wahrnehmungen. Jeder sieht die Welt mit seinen eigenen Augen. Und du siehst einen Film über Film, weil du Filmkritiker bist. Ich frage mich bloss, warum ich dann eine Geliebte hinter Johnnys seltsamen Verhalten sehe. Irgendeine billige Erklärung jedenfalls nähme ich mit Handkuss.“
(Shutter Island, USA 2010, Regie: Martin Scorsese, Schauspieler: Leonardo DiCaprio, Mark Ruffalo, Ben Kingsley, Max von Sydow)