Schwimmen im Mainstream

Gestern Vormittag sass ich am Esstisch und sortierte Disney-Sammelbildchen. Nach einer Weile gesellte sich eine frühere Version meiner selbst – deutlich jünger und noch kinderlos – zu mir. “Was um Himmels Willen tust du da?”, fragte sie mich. “Na ja, ich sortiere gerade diese Sammelbildchen, die sie bei Coop haben. Der Zoowärter hat sein Buch jetzt dann gleich voll und die Doppelten bekommt…”

“Das kann ich wohl sehen”, unterbrach mich mein Gast, “aber wie kommst ausgerechnet du dazu, so etwas zu machen? Was ist aus ‘Ich bin Migros und Coop kann mir gestohlen bleiben’ geworden? Wo ist deine klare Absage an Disney und anderen Kommerz geblieben? Wo ist die Frau, die lauthals verkündet hat, Kinder müssten nicht immer jeden Mist mitmachen? Was ist mit deiner klaren Linie, die du mal hattest?”

“Jetzt mal langsam”, fiel ich meinem früheren Ich ins Wort. “Ich bin und bleibe treue Migros-Kundin…”

“Genau. Darum hast du auch einen Stapel mit Coop-Sammelbildchen vor dir”, meinte mein Gast spöttisch. 

“Willst du mich wohl ausreden lassen? Die Bildchen bekomme ich von ganz vielen lieben Menschen geschenkt, die dem Disney-verrückten Zoowärter eine Freude bereiten wollen.”

“So, wir haben jetzt also auch einen Disney-verrückten Sohn. Wir sind jetzt also auch Mainstream.”

“Nur weil mein Sohn Disney-Bildchen sammeln darf, heisst das noch lange nicht, dass wir Mainstream sind. Immerhin haben ‘Meiner’ und ich mehr Kinder als der Schweizer Durchschnitt, wir fahren einen klapprigen Fünfplätzer, nächsten Frühling verreisen wir für zwei Monate mit der Familie…”

“Hach, wie ist das doch jämmerlich”, unterbrach mich mein früheres Ich. “Da sitzt du umringt von Schneewittchen, Winnie the Pooh und den Sieben Zwergen und glaubst, mir weis machen zu können, du würdest gegen den Strom schwimmen.”

“Gegen den Strom schwimmen ist gar nicht so einfach, wenn man Kinder hat”, gab ich trotzig zurück. “Wir verbieten Lego Star Wars, Spider Man und Kriegsspielzeug, da können wir nicht auch noch zu Donald, Goofy & Co. nein sagen.”

Mein früheres Ich sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. “Könnt ihr nicht? Früher hättest du gekonnt.”

“Früher hatte ich keine Kinder.”

“Früher hättest du gewusst, wie man das nennt, was du tust. Kompromiss nennt man das. Ein Wort, das du früher zu Recht verabscheut hast.”

“Früher musste ich nicht in samtweiche, bettelnde Kinderaugen blicken, wenn ich einen Entscheid zu fällen hatte.”

“Früher hätten dir samtweiche, bettelnde Kinderaugen nichts anhaben können. Du wusstest, dass Prinzipien einzuhalten sind.

“Wenn ich früher von samtweichen, bettelnden Kinderaugen angeschaut wurde, waren das nicht die Augen meiner eigenen Kinder. Du hast ja keine Ahnung, was Muttersein mit dir anstellt.”

“Wenn ich mir dich so ansehe, kann ich mir ziemlich genau vorstellen, was Muttersein mit einem anstellt. Man wird eine Fahne im Wind, ein prinzipienloses Wesen, das sich spielend leicht um den Finger wickeln lässt. Man macht gedankenlos jeden erdenklichen Kommerz-Scheiss mit und…”. Mein Gast zögerte einen Augenblick, fuhr dann aber fort: “…man wird doof. Weisst du eigentlich, welchen jämmerlichen Anblick du mit deinen Sammelbildchen abgibst?”

“Okay, in diesem einen Punkt muss ich dir leider Recht geben. Glaub mir, ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich meine kostbare Zeit je mit solchen Dingen verschwenden würde. Und dass ich sogar einen Sammelaufruf auf Facebook gepostet habe…”

“Was ist Facebook? Noch nie gehört.”

“Ach, das ist so eine Sache, die sie irgendwann erfunden haben. Eine Art Kommunikationsmittel. Nicht der Rede wert…”

“Spar dir deine Erklärungen. Wird wohl auch so eine Mainstream-Sache sein, bei der du angeblich gegen den Strom schwimmst”, sagte mein früheres Ich und ging aus dem Zimmer, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. 

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