Schwellenüberschreitung

Erstellt am 19. Juni 2012 von Andramas

Als es damals um die Pflegestufe 1 ging, kam ein Gutachter ins Haus. Eigens hierfür von der Krankenkasse beauftragt. Und – erinnere ich mich – neben mir saß ein Häuflein Elend, was ich genau so nicht sitzen lassen wollte.

“Früher”, sagte ich daher dem Gutachter, …

“… früher war mein Vater ein großer Mann. Kundendienstchef im Waggonbau Ammendorf, Reisekader, lange Zeit sogar Leiter des Moskauer Büros in der Handelsvertretung”

… und einiges mehr in diesem Sinne.

Bis sich der kranke Vater trotzig zu Wort meldete.

“Aber eigentlich wäre ich viel lieber Gärtner geworden!”

Das klang in Anbetracht meines Vortrages komisch. Auch der Gutachter hatte Schwierigkeiten, sich das Lachen zu unterdrücken.

Doch wenig später folgte dem Ereignis eine Simulation. Was werde ich in solcher Situation einmal sagen? “Eigentlich wäre ich viel lieber Wissenschaftler geworden” vielleicht?

Möglicherweise.

Jedenfalls beobachte ich an mir, wie mein Unterbewusstsein bei vielen Gelegenheiten in steter Regelmäßigkeit – vor allem ungefragt – nach theoretischem Bezug angelt. Wie gestern. Auf der Rolltreppe.

Wir werden angesprochen.

“Kleine Hund dürfen nicht Rolltreppe fahren. Das ist verboten. Sie müssen Ihren Hund auf den Arm nehmen!”

Die dumme Frau kennt keine Distanz. Weil ich einen kleinen Hund bei mir habe.

Ohne Hund hätte sie wohl geschwiegen, mit Hund kann sie eine banale Situation ausnutzend, ihre eigenen Probleme ersatzweise an den Mann bringen.

Man nennt das wohl “redirection activity” – Ersatzhandlung.

~

Doch wie ist das mit dem Hund? Hierzu gibt es doch wohl auch ein Psycho-Modell?

*grübel*

Ein kleiner Hund lässt Menschen häufig ihre Schwellen übersteigen, lässt sie – allein durch seine Anwesenheit – ihre Distanz aufgeben.

“Ist deeer aba niedlich! Kammer den streicheln?”

Und wenn Herrchen nicht sofort knurrt, hat Hundchen eine fremde Hand im Fell.

~

Zurück zu gestern. Die komische Frau hat also offenbar Probleme. Mein Hund gab ihr die Chance, zu reden, also einen Wildfremden anzusprechen. Statt empört zu sein scannte das Hirn gestern nach Zuordnung. Ohne Ergebnis. Weil draußen plötzlich ein Unwetter hereinbrach und ich die Blumenkästen abhängen musste.

~

“Flemming” fällt mir heute ein.

Dr. Vincent Flemming, bekannt durch die Radiosendung “Die Tricks der Seele”. …

“Durch seine Universitätsvorträge hat er sich international einen Namen gemacht. Legendär aber ist das rastlose Liebesleben des Erotomanen, der keine Gelegenheit auslässt, mit raffinierten Strategien Frauen zu verführen.”
Quelle: http://www.phoenix-film.de/produktion/flemming

Nun weiß ich es wieder: Flemming riss sich in einer der ersten Folgen eine Tasche seines Anzuges kaputt (=nahm einen kleinen Hund), um von einer begehrenswerten Frau angesprochen zu werden. Provoziert somit die Schwellenüberschreitung seines Opfers.

Eigentlich müsste ich nun weiter forschen.

Doch was tue ich statt dessen? – Sortiere Belege. Und in meiner kostbaren Freizeit gieße ich Lenchens Blumen oder besuche den Vater, der viel lieber Gärtner geworden wäre. Der möglicherweise an meiner blumengießenden Stelle glücklich wäre. Sich über ihre Blumen freuen würde, statt – wie ich – die Gegenrechnung aufzumachen: Schön im Soll macht täglich 10 Liter kostbaren Wassers im Haben.

Verdrehte Welt.