Schweigendes Wissen – über die Unauffindbarkeit der Erleuchtung…

Von Rangdroldorje


Unsere alltägliche Wahrnehmung bestimmt den Umgang mit der uns umgebenden Welt. Je nach dem Wissen über die unterschiedlichen Ebenen des Bewusstseins und deren Wirkweisen, ist es uns möglich, auch entsprechende Schritte zur Ganzheit unserer Wahrnehmung zu setzen. Unterzieht sich jemand einer intensiven Selbsterforschung, so wird er zunächst mit verschiedenen körperlichen Empfindungen und abstrakten Sinneseindrücken konfrontiert. Danach eröffnen sich ihm drei Bereiche: die biographische, die perinatale und die transpersonale Ebene. Diese sind allerdings nicht hierarchisch zu sehen, vielmehr sind sie wie ein Netz miteinander verwoben und zeitigen ihre unterschiedlichen Auswirkungen im Leben der betreffenden Person.

Spirituelle Traditionen weisen wiederholt auf diese Ganzheit des Lebens hin. Der Tod wird dabei nicht als die endgültige Zerstörung des Individuums angesehen, sondern Leben, Sterben und Zwischenzustand wie auch dieses Leben, Bardo und nächstes Leben sind nicht verschieden voneinander.

Hartnäckige Vorstellungen

Es ist interessant, dass Vorstellungen sich behaupten, während die Wirklichkeit sich in ständiger Veränderung befindet. Das Wort „Körper“ bleibt immer gleich, aber der Körper selber ist in ständiger Verwandlung. Die Vorstellung ist statisch, aber wenn man tatsächlich erfährt, was geschieht, entdeckt man einen Fluss von unbeständigen Elementen, ein Aufsteigen und Verlöschen von Empfindungen. Die achtsame – ursprüngliche und direkte – Erfahrung der Dinge enthüllt ihre wahre vergängliche Natur. Solange man sich noch auf der Ebene der Vorstellungen bewegt, bewahrt man die Illusion der Beständigkeit, die einen selbst an das Rad des Lebens und Sterbens gefesselt hält.
Bewusstsein ist dasjenige, das weiß, welches das Objekt erkennt. Manchmal haben die Menschen die Vorstellung, dass in diesem Geistigen und Körperlichen ein Bewusstsein von der Geburt bis zum Tode vorhanden ist, ein Beobachter, der alles weiß. Diese Idee ruft die Vorstellung von einem unvergänglichen Selbst hervor. Dies geschieht, wenn wir unseren Geist nicht genügend zum Schweigen gebracht haben, um das Fließen des Wissens zu sehen. In jedem Moment steigt das Bewusstsein selber auf und vergeht. Es gibt keinen Geist, der alle Phänomene betrachtet; in jedem Augenblick wird „Geist“ geschaffen und vernichtet. Das Bewusstsein, das hört, ist verschieden von dem Bewusstsein, das sieht oder schmeckt oder riecht oder tastet oder denkt. Es gibt verschiedene Bewusstseinsmomente, die in jedem Augenblick aufsteigen und vergehen. Wenn der Geist still wird, ist es möglich, dieses Fließen des Bewusstseins zu beobachten. Einsicht in das Fließen und die Vergänglichkeit der Eigenschaft des Wissens, das Begreifen, dass es keinen Wissenden gibt, keinen Beobachter, sondern vielmehr einen sich durch die Augenblicke fortsetzenden Prozess, löst die Vorstellung eines unvergänglichen Selbst auf.
Die geistig-emotionalen Gewohnheiten sind Eigenschaften des Geistes, die bedingen, wie sich das Bewusstsein zum Objekt verhält. Immer andere Zusammenstellungen dieser Geistesfaktoren steigen in jedem Augenblick des Bewusstseins auf und verschwinden wieder mit ihm.
Der Geist wird durch die Übung des Reinen Beobachtens in einen Zustand der Ruhe gebracht. Ein ungeübter Geist reagiert oft nur, klammert sich an angenehme Dinge und verurteilt die unangenehmen, hängt an dem, was er mag, und schiebt Verabscheutes von sich, er reagiert mit Gier und Hass. Eine ermüdende Unausgewogenheit des Geistes. Je weiter das Reine Beobachten entwickelt wird, um so mehr lernen wir, Gedanken und Gefühle, Situationen und andere Menschen ohne die Verkrampfung durch Anhaften oder Abneigung zu erfahren. Wir beginnen das, was geschieht, voll und ganz zu erfahren, mit einem ruhigen und ausgeglichenen Geist.

Achtsamkeit und Sammlung

Wenn beide, Achtsamkeit und Sammlung, entwickelt sind, ist ein Gleichgewicht des Geistes erreicht; es ermöglicht ein vollkommenes Lauschen. Eine tiefe und durchdringende Wahrnehmungsfähigkeit entwickelt sich und offenbart uns viele Aspekte darüber, wer wir sind.
Wenn Achtsamkeit gut entwickelt ist, wird das Fließen nicht unterbrochen, der natürliche Rhythmus nicht beeinträchtigt. Am Anfang ist es sicher nützlich, sich auf jeden einzelnen Vorgang einzustellen, aber nach der Entwicklung des Reinen Beobachtens fließt es mühelos. Der Vorgang der Entwicklung von Einsicht und Weisheit bezieht sich auf die Erfahrung der Wirklichkeit statt der Schatten. Dann wird die wahre Art der Natur sichtbar.
Einige der fortgeschrittensten Yogis und Meister haben nie studiert, nie ein Buch gelesen und sind keineswegs immer sehr klug, aber sie hören die Übungsanweisungen und führen sie aus. Der ganze Weisheitspfad entfaltet sich in ihnen, sie erfahren viele Stadien der Erleuchtung, und trotzdem fehlen ihnen die Worte, ihr schweigendes Wissen mitzuteilen. Die Erfahrung der Wahrheit in uns, frei von Vorstellungen und Ansichten, ist das Allerwichtigste.
Ein erleuchteter Mensch ist nicht auffindbar. Es gibt keine Möglichkeit, einen freien Geist durch irgendeinen Sinn zu erkennen, da er jenseits des Geistes ist. Es ist so, als ob man ein Feuer sucht, das bereits ausgegangen ist. Wo will man es suchen? Man kann sich die Erleuchtung nicht so vorstellen, als ob sie irgendwo existiert. Es gibt kein besonderes Zeichen auf der Stirn, aber man kann die Weisheit und Güte eines befreiten, erleuchteten Menschen erkennen und sie würdigen.

Vom 28. – 30. Jan. 2011 finden in Drikung Lhündrub Chödzong in Maria Lankowitz Studien- & Praxistage zu „Chöd – Der heilsame Umgang mit Konflikten“ statt. Dabei erfolgt auch eine Einführung in einige begleitende Praktiken wie z.B. dem rituellen Räuchern oder die Befriedung der Wesen der sechs Bereiche. (Anmeldung erforderlich)