Unsere soziale Marktwirtschaft ist keine Errungenschaft der Neuzeit. Vielmehr ist sie ein kurzer Seitensprung der Geschichte, eine kleine Lockerung der kapitalistischen Zügel dieser Welt, für den vorübergehenden Gebrauch konzipiert und derzeit dabei, als Auslaufmodell abgewrackt zu werden. Das derzeitige Zugrundegehen fairer Arbeitsbedingungen wurde bereits bei deren Erschaffung 1947 von Washington aus mit eingeplant.
Jobst Müller/Josch – Wir schreiben das Jahr 1947. Ganz Europa ist eine einzige Trümmerwüste, die Wirtschaft am Boden zerstört und die Menschen auf der Suche nach ihrer Zukunft. Da trifft sich in Washington Präsident Truman mit seinem Stab, um über die Zukunft Europas zu beraten. Truman ist besorgt. Er befürchtet, dass die Sowjetunion die trostlose Situation des Kontinents ausnutzen könnte, um mit Hilfe der kommunistischen Partei und den Gewerkschaften den sowjetischen Einflussbereich nach Westen hin auszudehnen. Um dem vorzubeugen, beschließt er, dass die USA sich fortan bemühen würden, ein Europa nach ihrem Bilde, ihren politischen Vorstellungen und gemäß ihren wirtschaftlichen Vorstellungen zu erschaffen. Ein Europa, das nach dem Vorbild der USA als Föderation untrennbar mit der Marktwirtschaft und einer offenen Weltwirtschaft verbunden sein sollte. Dies ist die Geburtsstunde der Truman- Doktrin vom 11. März 1947.
Nur drei Monate später, im 05. Juni 1947, begann der damalige amerikanische Außenminister George Marshal damit, den Plan in die Tat umzusetzen indem er in Havard ein Programm für den Wiederaufbau Europas verkündete, das European Recovery Programm (ERP), kurz Marschal- Plan genannt. Ein Konjunkturprogramm für die US- Wirtschaft, welches auf der Basis von US- Warenkrediten für Investitions- und Konsumgüter den neuen westeuropäischen Markt aufbaute und für die US- Wirtschaft öffnete. Daraus hervor ging ein bis dato einmaliges Wirtschaftsmodell in Gestalt einer abgemilderten Form des bisherigen Kapitalismus’, die Soziale Marktwirtschaft. Diese wurde bereichert um ein fordistisches Konsum- Wohlstandsmodell nach deren Erfinder Henry Ford, der auf diesem Wege bereits 1914 die industrielle Autoproduktion (Tin Lizzy) in den Staaten optimiert hatte. Das Modell diente vor allem einem Zweck. Der Kaufkraftsteigerung des Binnenmarktes in Konkurrenz zu dem eher sozialen Kurs der später entstehenden COMECON- Staaten unter sozialistischer Führung, auch ‘Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe’ genannt. In der übrigen Welt und von den europäischen Arbeitern unbemerkt breitete sich hingegen der liberale Raubtierkapitalismus gemäß der Lehre David Ricardos aus, der bereits 1740 die eiserne Regel aufgestellt hatte, dass die Löhne der Arbeiter stets auf ein, den Lebensunterhalt gerade noch sicherndes Niveau gedrückt werden müssten, ganz so, wie es auch heute wieder der Fall ist.
Globalisierung und Zeitenwende
Wie auch zuvor in der ‘Industriellen Revolution’ erleben wir heute einen regelrechten Quantensprung unserer technologischen und wissenschaftlichen Produktionsverfahren. Neue elektronische und kybernetische Produktionsverfahren, Nachrichtenwege und schnellere Verkehrsmittel waren es, die diese Entwicklung ermöglichten. Folgerichtig entwickelte sich zusehends eine schnellere Vernetzung der Märkte gefolgt von einer Neuberwertung der Standortfaktoren und einer Verbinnenmarktung, also äußeren Abgrenzung aller Märkte, auch der Arbeitsmärkte. Verbunden war dies mit einer enormen Umwälzung der Wirtschafts- und Sozialstrukturen aller Länder. Verbunden ist diese Entwicklung zugleich mit einem gigantischen Kapitalbedarf, der durch die herkömmliche wertschöpfende Realwirtschaft kaum zu sättigen ist. Der Bedeutungszuwachs des Finanzkapitals stieg daher in aberwitzige Höhen, ähnlich wie schon in den Gründerjahren vor dem ersten Weltkrieg. Hinzu trat ein immer schärferer Konkurrenzkampf um globale Märkte verbunden mit einer immer rasanter beschleunigten Monopolbildung der Konzerne, die sich nahezu den gesamten Planeten einverleibten. Besonders deutlich wird dies vor allem im Agrarsektor.
Der Untergang der COMECON und das Ende der sozialen Marktwirtschaft
Der Niedergang des alternativen, nicht kapitalistischen Wirtschaftsblocks des COMECON und seiner Partner mitsamt ihren Folgeerscheinungen für China und andere Staaten, eröffnete den Konzernen die halbe Welt als Neuland für eine Kapitaloffensive nie gekannten Ausmaßes. Ab sofort galt es, die gesamte Welt umzustrukturieren, neu zu gestalten und zu verteilen. Ein neues Unwort eroberte die Gegenwart: Globalisierung. Technischer Fortschritt und Globalisierung als zwei fundamentale Geschichtsereignisse machten das bisherige Schutzsystem der sozialen Marktwirtschaft unzeitgemäß und hinderlich, wenn nicht gar gefährlich. Unser auf Arbeitnehmer- und Bürgerrechte aufgebautes Sozialsstaatsystem gerät seit dem mehr und mehr zum Auslaufmodell.
Agenda 2010 – Anpassung an den ‘Washington Consensus’ (WC)
Eine Wirtschaftskonferenz im Washington des Jahres 1990. Der amerikanische Ökonom John Richardson startet einen Frontalangriff gegen die Weltbevölkerung. Er prägt erstmals mit dem Begriff ‘Washington Consensus’ die Bezeichnung einer ganzen Reihe wirtschaftspolitischer Maßnahmen, die letztlich nur einem Zweck dienen, das wirtschaftliches Wachstum der bestehenden Konzerne verschärft zu forcieren. Richardson hatte erkannt, dass Konformität als der entscheidende Trend im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben von allen beteiligten Ländern erzwungen werden musste, um auch in Zukunft Wachstum und Macht der Konzerne zu sichern. Er erschuf mit diesem Schritt ein neues, geradezu göttlich anmutendes Paradigma: „Ein globales Unternehmen ist segensreich und nützlich, eben weil es ein globales Unternehmen ist, und es ist ein globales Unternehmen, eben weil es segensreich und nützlich ist.“[1] Kurzum, der Begriff des Washington Consensus bezeichnet zusammenfassend die neoliberalen Prinzipien konformer globaler Umgestaltung, damals für Südamerika erdacht und dann weltweit umgesetzt. Interessant daran: Demokratieabbau und Repressionsmaßnahmen gegen zu erwartende Widerstände von Bevölkerungen werden darin dringend angeraten.
Am 27. Februar 2006 pries dann der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück in einer Rede vor der American Chamber of Germany in New York unter der Überschrift:“Deutschland – Ein attraktiver globaler Partner“ vor ausgesuchten Wirtschaftsbossen die Vorzüge der Agenda 2010 an. Darin enthalten: Die 2002 von der Hartz Kommision erarbeiteten Umbauten der deutschen Arbeitsmarktpolitik. Abbau der Staatsquote durch Privatisierung öffentlicher Bereiche, Zerschlagung der Tarifeinheit als auch tariflicher Arbeitnehmerrechte, Abbau der gesetzlichen Krankenversicherung und des Rentensystems, Steuergeschenke und neue Geschäftsmodelle sowie Steuergelder für Unternehmer und vieles mehr – all das präsentierte er als das, was es war: Ein in sich vernetztes, stimmiges Maßnahmenpaket zur Umsetzung der Forderungen des Washington Consensus hier in Deutschland.
Arbeitskraft ist im Kapitalismus nichts anderes als eine Ware und ein ebensolches Produktionsmittel wie beispielsweise eine Maschine – nichts weiter. Kapitalistische Wirtschaftlichkeit als gottgleicher Sachzwang gilt heute als oberstes Prinzip der Politik, gleichsam als Naturgesetz des Sozialdarwinismus. Ein Mensch, der nicht profitabel verwertbar ist, gilt dieser Logik folgend nicht nur als unnütz, sondern sogar als schädlich. Schon im 19. Jahrhundert wandte der englische Soziologe Herbert Spencer gemeinsam mit dem britischen Naturforscher Francis Galton den Kerngedanken der Evolutionstheorie (Survival of the fittest) auf die gesellschaftliche Entwicklung an. Wer also schwach und minderwertig ist, kann seine Existenz deshalb nicht sichern, weil die Auslese auf dem Arbeitsmarkt wie auch im Tierreich gut funktioniert. Existenzsicherung und Fortkommen sind demnach prinzipiell gerecht, sind Freiheit und Eigenverantwortung. Genau dieses menschenverachtende System zur Wegsperrung und Repression von damals taucht heute in modernisierter Fassung erneut auf, vor allem als Rechtfertigungsideologie für das Elend. Schon seit Charles Dickens kennen wir diese Kasernierung bei dürftiger Ernährung und Zwangs- oder Leiharbeit. Dies ist kein Zufall, sondern die marktgerechte Handhabung von Problemen nach den Prinzipien kapitalistischer Wirtschaftlichkeit.
Funktionen und Wechselwirkungen des Hartz IV- Systems
“Arbeitslosigkeit ist zu allen Zeiten ein Bleigewicht an den Füßen der Arbeitnehmerschaft in ihrem Existenzkampf mit dem Kapital, ein Regulator zur Niederhaltung der Arbeitslöhne auf einem dem kapitalistischen Bedürfnis angemessenen Niveau. […] Die Überarbeitung der einen (wird) die Voraussetzung […] für die Beschäftigungslosigkeit der anderen. […] Das Gesetz, welches die relative Surplus- Population (also Überschüsse – Anm. d. Red.) oder die industrielle Reservearmee stets in Umfang Energie der Kapitalakkumulation im Gleichgewicht hält, schmiedet die Arbeitnehmer fester an das Kapital.[...] Es bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend.“ (Friedrich Engels MEW, Bd 19, S. 198-228/ 1880)
Engels wollte damit sagen: Solange kapitalistische Gesetzmäßigkeiten und Produktionsbedingungen bestehen, lässt dauerhafte Vollbeschäftigung sich niemals erreichen. Das ist darauf zurückzuführen, dass der Kapitalismus stets einen Überschuss an arbeitsfähigen Arbeitslosen erzeugt, weil er diese benötigt. Angefangen bei der Konjunkturlage (konjunkturelle Arbeitslosigkeit), über die branchenbedingte strukturelle Arbeitslosigkeit bis hin zur standortbedingten Arbeitslosigkeit. Während einer Weltwirtschaftskrise sind daher mehr oder weniger ALLE Arbeitnehmer in vielen Ländern und in noch mehr Berufsfeldern betroffen.
Wie bereits Industriemagnat Friedrich Flick 1931 anlässlich einer Aktionärsversammlung in Düsseldorf bekannt gab: “Je mehr Arbeitslose wir haben und je schlechter es ihnen geht, desto besser wird die Arbeitsmoral, desto weniger drücken uns die Lohnkosten!“ [2,3]
Die Hartz IV Regelungen sind nie dazu erdacht worden, Menschen in Lohn und Brot zu bringen, was unter anderem durch die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe begründet wurde. Sie erfüllen auch nicht den Hauptzweck des Sozialstaatsgebotes, nämlich Menschen ohne Einkommensmöglichkeit das Dasein zu sichern. Zumindest solange, wie diese es selbst nicht können. Das SGB II dient vielmehr maßgeschneidert zur Erfüllung folgender Ziele der Agenda 2010:
- Verringerung von Sozialausgaben wie Krankenversicherung und Sozialversicherung, Privatisierung im Sozialbereich oder Rente mit 67 etc.,
- Zerschlagung des Rentensystems durch die Schere zwischen beitragsloser früher Arbeitslosigkeit und späterem Anspruchsbeginn,
- Zerschlagung des Tarifsystems, der Arbeitnehmeransprüche- und Rechte. Durch Lohnsenkungseffekte, durch Leiharbeit und Zeitarbeitsüberweisungen der ARGE bzw. der Jobcenter als auch durch das Aufstocker- Modell. Aber auch durch die Androhung des Verlustes bürgerlicher Freiheiten, Wohnung und Existenz durch ebenso rasanten wie auch schnellen sozialen Abstieg. Auch die Mitarbeiter selbst in den Jobcentern sind prekär beschäftigt.
Angesichts der beschleunigten Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse auf nunmehr etwa 40 Prozent aller Erwerbstätigen gibt es in Deutschland heute drei Arten von Arbeit:
- Der 1. Arbeitsmarkt – dieser ist rückläufig und ein Relikt aus besseren Tagen der sozialen Marktwirtschaft. Stattdessen repräsentiert er heute Tarifarbeit mit zunehmender Produktivität und hoher Kapitalakkumulation, wenn auch bisweilen belastet durch Lohnsenkungen.
- Der 2. Arbeitsmarkt in Form von geförderter, staatlich gestützter, jedoch weniger produktiver Lohnarbeit mit Subventionen aus Steuergeldern. Die Folge ist eine Beeinträchtigung der Tarifrechte und Leistungen.
- Der 3. Arbeitsmarkt in Form erzwungener Arbeit mit niedriger Produktivität auf dem Existenzminimum durch Harz IV oder Zwangsvermittlung. Nur einige wenige Unternehmen der ‘Armutsindustrie’ profitieren davon. Es handelt sich hier um eine geschützte und sozialgesetzliche reglementierte Ausbeutung der Restarbeitskraft ohne Arbeitnehmer- und Bürgerrechte. Falls tatsächlich mal eine Arbeitsvermittlung oder Umschulung erfolgt, dann nur auf niedrigstem Niveau, wie am Beispiel von Bürgerarbeit und 1 Euro- Jobs deutlich wird.
Die Perfidität des Hartz IV- System unterteilt die überflüssigen Opfer aller Schichten und Berufe in Reserve- Malocher für die schnelle Drecksarbeit und in total unbrauchbare, gebrochene Menschen. Dies geschieht durch schikanöse, vor allem aber teure Selektionsmethoden. Wer einst normal arbeitender Bürger war, wird eingeschüchtert bis er bereits ist, selbst den letzten Drecksjob anzunehmen, da ihm sonst das existenzielle Aus droht. Die Angst hiervor bei ständiger Bedrohung durch Betriebsschließungen und Standortverlagerungen, treibt jene, welche noch richtige Arbeit haben dazu, den Wechsel ihrer Einkommenslage, Sozialabbau und Verausgabung von Volkseigentum und Steuergeldern stoisch zu ertragen.
Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied und für sich selbst verantwortlich. Jeder, der dies will, bekommt auch Arbeit, es sei denn, er ist unfähig oder zu faul. Diese brutale Ideologie hat ihre paradoxe sozialpsychologische Wirkung in der Ellbogengesellschaft des althergebrachten Raubtierkapitalismus aus den Zeiten Ricardos und Smith’s. Der gerichtlich verurteilte und korrupte Peter Hartz, VW- Globalmanager und Duzfreund Gerhard Schröders, hat mit Hartz IV das wichtigste Instrument geschaffen, um der verunsicherten Bevölkerung dieses Landes sämtliche, auch weitere Auswirkungen und Prinzipien des Washington Consensus nahezubringen und die verständlichen Widerstände dagegen aufzubrechen. Daher ist die Verbesserung der menschenverachtenden Lebensbedingungen von Hartz IV- Abhängigen nicht nur wichtig, sondern zwingend notwendig.
Vor diesem Hintergrund bekommt die angebliche Bankenkrise 2008 eine völlig neue Bedeutung. Davon abgesehen, dass die Geldkonzerne sich so als ‘systemrelevante’ Faktoren das gesamte, während der letzten 60 Jahre erarbeitete Volksvermögen der europäischen Staaten und der USA in die eigene Tasche gespült haben, bietet die so entfachte Wirtschaftskrise einen hervorragenden Vorwand, um unsere Bürger- und Arbeitnehmerrechte weiter zu beschneiden und uns zurück zu treiben in die Sklaverei eines ‘Manchesterkapitalismus’, aus dem uns die Geld- und Machteliten damals nach Kriegsende nur vorübergehend entlassen haben, um uns dem Sowjetreich abzuluchsen.
Hartz IV muss weg. Dieser Schritt ist tatsächlich so alternativlos wie notwendig. Ebenso die Verbesserung der Sozialsysteme und Arbeitnehmerrechte weltweit. Andernfalls bleibt der Großteil der Menschheit auch weiterhin das Plumpsklo des Kapitals.