Schwarz-weiße Radikalität

An zwei aufeinanderfolgenden Abenden präsentierte Wien Modern ein „dance concert“ – also ein Tanzkonzert unter dem japanischen Titel „Shirokuro“. Übersetzt wird dieser Begriff mit schwarz-weiß und tatsächlich präsentierte sich das Bühnenbild im kleinen Saal des Brut ganz in diesen Nicht-Farben. In einem schwarzen Raum, darin ein schwarzer Konzertflügel kaum beleuchtet, strahlten von Beginn weg nur einige am Boden liegende Neonröhren begrenzt ihr weißes Licht aus. Beinahe unmerklich löste sich eine dunkle Figur mit schwarzen, langen Haaren aus der ersten Reihe und durchkämmte den Raum gebückt, mehr im Hockschritt denn aufrecht gehend. Aus einem leisen, dumpfen Grundgeräusch löste sich allmählich der Atem des Wesens und undefinierbare Laute, wie die eines Urmenschen, waren zu vernehmen. Von Beginn an war nicht klar, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, zu dunkel war der Raum. Erst als sich dieser Mensch ans Klavier setzte, mit bloßem Oberkörper, bedeckt nur durch die lange, schwarze Haarmähne und mit einem dunklen Hosenrock bekleidet, wurde erkennbar, dass es sich um Tomoko Mukaiyama handelte. Eine mit Preisen ausgezeichnete Pianistin, die aber darüber hinaus getrost als Ausnahmekünstlerin bezeichnet werden kann. Sie arbeitete nicht nur am Konzertpodium mit verschiedenen hochrangigen Orchestern, sondern auch mit Filmregisseuren, Designern, Architekten, Fotografen und Choreografen wie Ian Kerkhof, Marina Abramović, MERZBOW, Kim Itoh oder Jiri Kylián.

Schwarz-weiße Radikalität

Die Ausnahmekünstlerin Tomoko Mukajama war in Wien anlässlich von Wien Modern zu sehen. (Foto: Anja Beutler)

Schwarz-weiße Radikalität

Shirokuro war im brut anlässlich von Wien Modern zu sehen. (Foto: Anja Beutler)

 Schwarz-weiße Radikalität

Shirokuro war im brut anlässlich von Wien Modern zu sehen. (Foto: Anja Beutler)


Dieses Wesen, das noch vor wenigen Augenblicken direkt aus der Prähistorie gekommen zu sein schien, saß nun am Flügel und begann das Klavier mit wuchtigen Schlägen zu traktieren. Mit ganzer Körperkraft und weit ausholenden Gesten intonierte die wilde, zarte Frau die Klaviersonaten 5 und 6 der Russin Galina Ustwolskaja, sowie ihre eigenen kompositorischen Einfälle, die auf Schumanns „Sechs Studien op. 56“ basieren. Diese sind fast nie im Konzert zu hören, benötigt man doch entweder 2 Klavierspielende oder einen Pedalflügel. Dieses außergewöhnliche Instrument ist ein Klavier, das mit einem tiefergelegten Korpus versehen ist, welcher mit einer zusätzlichen Bespannung ausgestattet ist, die über eine Pedalklaviatur mit den Füßen gespielt wird, so wie dies bei der Orgel der Fall ist. Schumann komponierte einige Stücke für dieses wunderbare Instrument, das sich durch eine unglaubliche Klangfülle auszeichnet. Diese Klangfülle versuchte Ustwolskaja in ihrer Interpretation nachzustellen und tatsächlich gelangen ihr Stücke, die nicht nur von einer mitreißenden Rhythmik bestimmt sind, die stampfend und roh große Teile markieren, sondern auch leise, lyrische Passagen mit wenigen Akkorden beinhalten, die beinahe wie Fremdkörper in der restlichen Koposition wirken.

Die Spannung, die zwischen der Musik ausging und der unkonventionellen Art des Vortrages hätte nicht größer sein können. Auf der einen Seite die rasenden Klänge, die nur von jemandem gespielt werden können, der am Klavier die höchste Ausbildungsstufe erreicht hat und auf der anderen Seite der überraschende Auftritt der Pianistin, die mit wallender Mähne und nur einem Unterteil bekleidet diese Musik interpretierte, war mehr als irritierend. Sofort stellten sich eine Reihe von Fragen nach der Aufführungspraxis aber vor allem nach der Freiheit der Künstlerinnen und Künstler, ihrem Stellenwert als Interpreten und ihre im klassischen Musikbetrieb ständig zu unterdrückenden eigenen kreativen Ansätze und Interpretationswünsche. Nach geraumer Zeit betrat ein junger Mann die Bühne. Er trug einen schwarzen Rock und eine weite, weiße Bluse. Lange Zeit stand er regungslos da, das Publikum betrachtend, bis er ganz unvermittelt zu den intensiven Klangmustern zu tanzen begann. Jeder einzelne Schlag auf das Klavier bedeutete für ihn eine bestimmte Bewegung. Er folgte einer Choreografie, die keinen einzigen Ton bewegungslos ausließ. Die kraftvollen Bewegungen, die zum größten Teil im Stand von seinen Armen ausgingen, gaben die Wucht der Musik wieder. Das ständige Auf- und Abbewegen seines Oberkörpers und die raschen Armbewegungen, das Schleudern der Arme in die Luft, verlangte von ihm eine immense Kondition. Plötzlich änderte sich die Szene und die Pianistin saß wie regungslos am Klavier. Nach einer kleinen, ganz leisen Melodie erklang ein kleines Stück aus Schumanns Werk im Original. Die Romantik der Musik schlug sich augenblicklich im Tanz von Mitchell-Lee van Rooij wieder, der in sanften und fließenden Bewegungen, mit denen er den gesamten Raum durchspannte, Anklänge an Muster des klassischen Ballett erkennen ließ. Wie der Blick in eine gänzlich andere Zeit mutete dieses kurze Zwischenstück an – das aber schon nach kurzer Zeit jäh von den Hammerschlägen abgelöst wurde, die in Ustwolskajas Stück so zahlreich vorhanden sind. Wieder war es die kräfteraubende Choreografie, die van Rooij zum Besten gab, doch immer kürzer wurden seine Bewegungselemente, bis er völlig verausgabt, regungslos, tief Atem holend, stehen blieb.

Auch Tomoko Mukaiyama hatte zu spielen aufgehört. Der junge Tänzer hob sie, die erschöpft leicht zur Seite gesunken war, sanft von ihrem Platz und die beiden begannen – nachdem ein Regen von schwarzen Papierschnipseln herabgefallen war – einen sehr innigen, parallel geführten Tanz, der an Bewegungen des Qi-Gong und Tai-Chi erinnerte. Ohne Musik, aber harmonisch aufeinander eingestimmt und fließend im Ablauf, bildeten sie nun einen starken Kontrast zur davor gezeigten Intensität des Tanzes und der erklungenen Musik. Das „Tanzkonzert“ hätte hier auch enden können und doch setzten die beiden einen bildhaften und sehr markanten Schlusspunkt. Eine weiße Stoffbahn nach der anderen wurde von ihnen nach ihrem gemeinsamen stillen Tanz über den schwarzen Flügel gebreitet, so lange, bis dieser darunter gar nicht mehr zu erkennen war.

Vorüber war die furiose musikalische Hetzjagd, vorüber die pianistischen und tänzerischen Anstrengungen. Mit einem einfachen Lied, begleitet von Orgelmusik, die sich bis in eine beinahe unerträgliche Lautstärke hochschaukelte, verabschiedete sich die Künstlerin. Sie trug zu Grabe, was menschenunwürdig geworden war. Der Geist der Romantik, welcher der ursprünglichen Musik Schumanns innewohnte und der seiner Zeit angepasst war, hatte sich in einen menschenunwürdigen Horrortrip verwandelt, in welchem Leistung bis zur Verausgabung die Menschen peinigt. Die extreme Lautstärke nach dem anfangs versöhnlich wirkenden Schluss machte aber klar, dass es kein wirkliches Entrinnen aus den Zwängen unseres Heute gibt. Nicole Beutler, die für die Choreografie verantwortlich zeichnete, schuf mit Mukaiyama und van Rooij sowie der beeindruckenden Lichtregie von Jean Kalman einen Abend, der mehr ist als ein Bindeglied zwischen Musik, Tanz und Performance. Er sprengt alle bekannten Einordnungsversuche in herkömmliche künstlerische Schubladen und bietet mehr als die hier aufgerollte Interpretationsmöglichkeit. Eine Produktion, die vor allem wegen Tomoko Mukaiyamas Radikalität eine neue Dimension in der zeitgenössischen Musikpräsentation eröffnet. Beeindruckend, grandios, atemberaubend.

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