„Schwamm drüber!“ Ist Vergebung so einfach?

Von Wernerbremen

Quelle: Helmut Mühlbacher

Ihr Lieben,
heute Nachmittag möchte ich Euch eine Geschichte von Gerlinde Lohmann erzählen:

„Schwamm drüber!“„Eines Tages kam ein weiser alter Mann zu Besuch bei einem jungen Mann.
Als er das Wohnzimmer betrat und sich in einen Lehnstuhl setzte, erblickte er eine große Tafel an der Wand.

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„Merkwürdig“, dachte er bei sich. „Wozu braucht ein junger Mann eine so große Tafel bei sich zu Hause?“ Und in seiner Neugier fragte er den Jungen danach.
„Lange Zeit, nachdem ich die Schule beendet hatte, wurde das alte Schulgebäude geschlossen. Und jeder durfte etwas mitnehmen, wenn er dafür eine Verwendung hatte. Ich griff sofort zur Tafel.“

Der junge Mann strich liebevoll über den alten Schiefer seiner Tafel.

„Aber“, so fragte ihn erneut der alte Mann, „was machst Du denn mit der Tafel? Ich sehe, sie ist von oben bis unten voll beschrieben.“

Der junge Mann schaute ihn an und sagte:
„Da habe ich viele Dinge aufgeschrieben, wo andere Menschen mir Böses getan haben. Sieh nur: So viel musste ich erleiden! Nur hier unten ist noch ein wenig Platz für das, was noch an Unrecht in Zukunft mir geschehen wird.“ Traurig schaute blickte er den alten Mann an.

Der hakte jedoch nach:
„Ist denn keiner von denen zu Dir gekommen und hat Dich um Verzeihung gebeten?“

„Doch“, antwortete der junge Mann. „Soweit ich mich erinnern kann, waren es viele.
Aber ich kann es trotzdem nicht ungeschehen machen. Langsam wurde ihm etwas unwohl in seiner Haut. Verstand ihn der alte Mann denn nicht? Und er fragte zurück:
„Was würdest Du den an meiner Stelle tun?“

Ohne zu zögern, bekam er die Antwort: „
Schwamm drüber!

Und mit einem Blick wies der alte Mann auf den Tafelschwamm, der an der Seite hing – seit Jahren vertrocknet.

Ihr Lieben,
Schwamm drüber!“ – Es wäre schön, wenn sich Probleme so einfach lösen ließen, wenn sich schreckliche Erinnerungen und Unrecht, das an uns getan wurde, so einfach auslöschen ließen.

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Mit einem einfachen „Schwamm drüber!“ ist es meist nicht getan.
Aber das meint unsere Geschichte auch nicht. Das „Schwamm drüber“ gehört zu der Liste des Unrechts, das der junge Mann erfahren hat.

Wir werden das Unrecht, das uns angetan wurde, nur dann hinter uns lassen können, wenn wir irgendwann bereit sind, dass es nicht mehr die Hauptrolle in unserem Leben spielt. Und das tut das Unrecht, solange es die ganze Tafel unseres Lebens ausfüllt.

Deshalb mag ich das Wort „Vergebung“ auch lieber als das Wort „Verzeihung“.

Vergebung“ bedeutet, ich gebe ein Unrecht weg, ich lasse ein Unrecht hinter mir, ich lasse nicht zu, das ein Unrecht mein Leben weiter verdunkeln.

Als ich als Kind und Jugendlicher als ESESLKIND auf bestialische Weise gequält und geschlagen, auf erniedrigende Weise gedemütigt und auf brutale Weise missbraucht wurde, da schrie mein junges Herz nach Rache und viele Jahre verdunkelte das mit angetane Unrecht mein Leben wie dunkle Gewitterwolken an einem blauen Himmel.

Ich lernte dann, auf die Täter zuzugehen und sei nach den Motiven für ihre Taten zu fragen und ich lernte, die Täter zu verstehen. Die Taten entschuldigte das nicht, aber ich begriff, wie es zu den Taten kommen konnte. Mit einigen Tätern war sogar eine völlige Versöhnung möglich und mit einem der Täter, die mich damals in der Schule so erbarmungslos gefoltert haben, bin ich heute befreundet.

Die Erinnerung an die Taten ist so frisch, als wären die Taten gestern an mir verübt wordenund das wird wohl auch so bleiben.
Anders ist, dass diese Erinnerungen keine Rachegedanken mehr auslösen wie vor vielen, vielen Jahren, sondern dass diese Erinnerungen in mir den Impuls wecken:
Wo kann ich noch mehr Liebe schenken, wo kann ich mich versöhnen, was kann ich im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten tun, damit weniger Kinder missbraucht und misshandelt werden?

Bei den Taten, bei denen eine Aussöhnung mit den Tätern nicht möglich war, habe ich einen ganz bewussten Schlussstrich gezogen und mir gesagt:
Ich will mein Leben nicht durch diese Taten weiter verdunkeln lassen.
Deshalb unterscheide ich heute ganz bewusst zwischen mir als Kind und Jugendlicher DAMALS und mir als Erwachsenen HEUTE.
Ich lasse nicht zu, dass die damaligen Erlebnisse mein Leben heute negativ beeinflussen.

Ihr Lieben,
wenn Ihr unter dem Unrecht, das Euch zugefügt wurde, leidet, so versucht, dieses Unrecht aufzuschreiben, damit es greifbar wird, damit es nicht „namenlos“ bleibt.
Und dann versucht, Euch mit den Tätern zu versöhnen und wo das nicht möglich ist, haltet auf Eurem Weg inne, stellt die Last des Euch angetanen Unrecht an, ruhet ein wenig und wenn Ihr dann Euren Weg weiter fortsetzt, dann lasst die Last stehen, löscht sie aus Eurem Leben, geht mit dem Schwamm über die Tafel Eures Lebens.

Entscheidend seid Ihr allein, es geht darum, dass Ihr unbelastet weiter leben könnt, dass in Eurem Herz Raum wird für Freude, Friede, Liebe, Hoffnung, Zuversicht.

Das wünsche ich Euch von Herzen und ich grüße Euch ganz herzlich aus Bremen

Euer fröhlicher Werner 

Quelle: Karin Heringshausen