Schule auf Vertragsbasis

oder Wieder mal ein persönlicher Einblick in und auf die neoliberalen Bildungswege.
Anruf von der Schule. Ihr Kind wurde bei einem gewaltsamen Übergriff erwischt, ein anderes Kind ist verletzt, sagte mir die Sekretärin. Daher wird ihr Kind nun den Unterricht verlassen und nach Hause geschickt, folgerte sie. Ob ich damit einverstanden sei? Ich war perplex genug ein Ähm, ja! und ein Ok! zu stammeln. Ich kenne mein Kind, kein Engel fürwahr - aber ist es infantiler Gewalttäter, der andere verletzt?
Aus den Augen, aus dem Sinn
Tatsächlich sieht das Hessische Schulgesetz Disziplinarstrafen wie das Heimschicken von Schülern vor. Pädagogische Maßnahmen nennt sich das dort. In besonders gravierenden Fällen ist die unmittelbare Suspendierung des Schülers für den Rest des Schultages möglich. Was jedoch besonders gravierend ist, findet sich natürlich nicht im Schulgesetz. Es liegt im Ermessen des Schulleiters. Um den reibungslosen Ablauf des Schulalltages zu gewährleisten, gibt es Schulen - wie jene meines Kindes -, die sich darauf einigen, dass alles mehr oder weniger schwerwiegend sein soll. Gewalt ist insofern gleichermaßen ein Schubser, dieses kindliche Allerweltsspiel, wie auch gezielte Prügel. Hier erfolgt eine straffe Gleichstellung von verschiedenen Gewaltgraden, die Gleichrangigkeit kindlicher Übermütigkeit mit groben Gewaltexzessen.

Die Schule meines Kindes hat sich da etwas Nettes einfallen lassen, um etwaigen protestierenden Eltern, die dieser Suspendierung aus windigem Anlass nicht zustimmen wollen, Grenzen aufzuzeigen. Man hat mit Einschulung den Kindern einen Vertrag unterbreitet, in dem sich das Kind einseitig verpflichtet, keinerlei Gewalt anzuwenden. Weder ist dort definiert, wo kindliches Unbenehmen aufhört und wo Gewalt beginnt, noch bietet die Schule als Vertragspartner eine Klausel an, in der Schlichtungsmethoden oder andere Mediationsangebote ausgebreitet würden. Auf diese Art von Vertrag mit noch nicht geschäftsfähigen Vertragsteilnehmern, ist man mächtig stolz - er erlaubt die Aufgabe der Betreuungspflicht und schiebt die Verantwortung innerhalb der eigentlichen Schulzeit den Eltern zu.
Kleinste Dinge mit Vertrag zu regeln ist ja so ein Faible der neoliberalen Weltanschauung. Die glaubt, man könne die Gesellschaft komplett auf Vertragsgrundlage gestalten. Die Welt sei demgemäß nicht mehr als eine Ansammlung potenzieller Vertragsoptionen. Sich zu vertragen heißt für sie, dass man einen Vertrag selbst auf Einhaltung von Schulordnungspunkten aufsetzt und zur Unterschrift vorlegt. Da, wir habe es doch Schwarz auf Weiß! Interventionen von Eltern, die behaupten, ihr Kind habe nur gerempelt und geknufft, werden so glattgebügelt. So fange Gewalt nämlich an; wehret den Anfängen! Mit der Arroganz desjenigen, der auf einen Vertrag pochen kann, begegnet man den Eltern dann. Kindliches Rudelverhalten wird auf Vertragsgrundlage sanktioniert, das Kind ist nicht mehr Kind, es steht im Kontrakt, ist Vertragspartner, von daher vom kindlichen Verhalten, das natürlich oft nervig und natürlich auch tadelnswert sein kann, entfremdet.
Das Kind hat zu funktionieren - ich berichtete ja schon mal darüber, ich schrieb: "Die Funktion des Kindes, die mit allen Mitteln hergestellt werden soll und falls das nicht gelingt, die Dysfunktion des Kindes auszumerzen, indem man das Kind suspendiert, aussperrt, es auf eine andere Schule überführt, ist die eine Säule neoliberalen Gedankenguts an Schulen." Die Suspendierung auf Vertragsgrundlage ist dabei besonders perfide, denn hier macht man aus einem Kind einen Geschäftspartner. Wenn da die herrschende Ökonomie mal nicht vollendet durchgeschlagen hat! Und was hat das eigentlich mit Pädagogik zu tun? Immerhin geschehen solche Bestrafungen im Rahmen "pädagogischer Maßnahmen".
Kurzer Statusbericht
Was war also geschehen? Mein Kind war ins übliche Geschubse zum Pausenende verwickelt und wurde inflagranti erwischt. Die anderen Teilnehmer haben sich gescheiter angestellt und haben sich nicht ertappen lassen. Die Verletzung war eine angestossene Nase. Kein ärztlicher Befund, da schon wieder vergessen. Rücksprache mit dem Klassenlehrer, der mit der Heimschickung nichts zu tun hatte: Alles halb so wild, sagte er. Das Herumgeschubse bringe man nie aus Kindern raus. Damit müsse man leben. Die Schule, ich vermute er meinte: der Schulleiter, wolle aber so vorgehen.
Man ahndet also rigoros, macht aus Mücken Elefanten. Die stören dann weniger den Betrieb. Die Tränen des Kindes, die Nervosität von Eltern, die während der Arbeitszeit angerufen werden: all das nimmt man in Kauf. Man hat scheinbar schon lange aufgegeben, pädagogisch vorzugehen, schickt lieber weg, bannt die nervenden Aspekte des Kindes ins Private. Ist das das Lehramt, das man heute lehrt? Kinder als der wunde Punkt der Pädagogen? Wäre das schön an Schulen zu lehren, wenn nur die Kinder und ihr Verhalten nicht wäre! Der behindernde Faktor namens Kind, dieser Störenfried mit Pausenbox - in Zeiten neoliberaler Effizientitis sind Kinder ein Affront.
Verhaltensnormen als Ausgrenzungskriterium
Als ich beim ersten Elternabend war, konnte ich nur schwer diese Neigung für eine Zensur erklären, die sich Sozialverhaltensnote nennt. Dergleichen gab es in Bayern nicht. Berichtigung: Es gab sie für einige Zeit, sie wurde aber wieder kassiert. Die Kritiker hatten sich durchgesetzt. Die meinten, damit durchleuchte man das Kind, mache den Charakter durchleuchtbar und erzeuge ein falsches Bild von der betreffenden Person.
Ob eine Person Persönlichkeit entwickelt, wenn sie sich dauerhaft an der Sozialverhaltennote orientiert, von den Eltern stets auf diese Note hingewiesen wird, würde ich als Kritik hinzugeben wollen. Begehr nicht auf, keine Widerworte, denk an deine Sozialverhaltensnote! Eltern machen sich verrückt um diese benotete Rubrik, Kinder fürchten den Furor der Eltern. Potenzielle Ausbilder würden wohl mit Argusaugen auf Sozialverhaltennoten starren, heißt es von Seiten dieser Pädagogik. Daher sei unbedingt eine gute Zensur notwendig. Was ist das für eine Pädagogik, die nicht gegen solche Noten ankämpft, sondern sie stützt? Was ist das für eine Pädagogik, die damit kenntlich macht, sie halte vom menschlichen Reifeprozess eigentlich wenig? Denn das Verhalten eines Achtklässlers muss doch nicht das Verhalten sein, das man dann als Schulabgänger oder noch später an den Tag legt. Und welche Rückschlüsse erlaubt Unpünktlichkeit auf charakterliche Eignung? Ist man nicht richtig sozial, wenn man aus Drang zum Humorigen immer wieder mit Flapsigkeit und lockeren Sprüchen auf sich aufmerksam macht? Welche Persönlichkeit entwickelt man, wenn man nahe am guten Sozialverhalten sozialisiert wird? Ist der Jasager und Abnicker nicht schon programmiert? Ist Geselligkeit, die dort negativ zu Buche schlägt, nicht auch häufig ein Attribut, das auf emotionale Intelligenz verweist?
Die Note im Sozialverhalten wird von Eltern und Lehrern gerne mit Tugendhaftigkeit verwechselt. Der gesamte bürgerliche Wertekanon fließt hier rein. Schwierig wird es dann für Kinder, deren Eltern nicht sehr stark an diesem Kanon orientiert leben. Ich meine das völlig schichtenunabhängig. Die von Eltern an ihre Kinder weitergereichte Egomanie und Ellenbogenzentriertheit zeitigt eher selten Abzüge in der S-Note. Das gehört zum guten Ton; wer sein Kind in der Gesellschaft etablieren will, muss geradezu sein Kind zum Ichling erziehen. Das kann man nicht negativ bewerten. Das ist nämlich elterliche Fürsorglichkeit. Eltern aber, die ihren Kindern erklären, dass man zwar durchaus Respekt vor Lehrern und Mitschülern haben muss, wie vor jedem Menschen, dies aber nicht Untertanengeist bedeute, dass man also beispielsweise zum Pinkeln gehen darf, auch wenn der Lehrer meint, das sei eine Aktion für die Pause, dann könne man getrost Verweigerungshaltung einnehmen und fröhlich zum Pinkeln abrauschen, dann wird das in aller Regel das Sozialverhalten negativ beeinflussen. Ich würde jedoch sagen, ganz im humanistischen Sinne, dass Courage nichts ist, was man als schlechtes soziales Verhalten bezeichnen könnte, sondern ein Ausdruck von persönlicher Freiheit, die Kinder dringend erlernen müssen, um irgendwann als Persönlichkeit ins Leben gehen zu können.
Die Noten im Sozialverhalten ziehen Duckmäuser heran, reibt den Keim der Persönlichkeit auf, erzieht teilweise sogar falsche Normen an. Freundlichkeit ist nicht verwerflich; wer aber in einem Elternhaus aufwächst, in dem die Freundlichkeit aus welchen Gründen auch immer, nicht besonders gepflegt wird, gerät ins Hintertreffen. Die verschiedenen Tugendmilieus erhalten als Meßzeug einen bürgerlichen Maßstab, der für die Nuancen der verschiedenen sozialen Herkünfte und Elternhäuser nicht sensibilisiert ist. Oder anders gesagt: Das beäugte Sozialverhalten rekrutiert sich aus bürgerlichen (Schein-)Tugenden und schließt Kinder aus Elternhäusern aus, die diese Tugenden nicht leben können oder wollen.
Charakterlosigkeitsschulung
Die Überforderung der Lehrer ist bemerkenswert. Mein Kind berichtete mir von einer Lehrkraft, die gezielt und stets neu den Stinkefinger als "pädagogisches Mittel" einsetzt. Ich glaubte das erst nicht, gratulierte mir zu einem Kind mit reger Phantasie. Aber irgendwann erzählten mir Kinder aus dem Fußballverein unabhängig davon. Sie zeige ihn einzelnen Kindern vor der Klasse oder gleich der ganzen Klasse und will natürlich nicht selbst gestinkefingert werden. Vorbildfunktion dürfe das nicht haben. Interessante Lehrmethoden und -logiken sind das! So sind sie nicht alle, die Lehrer, viele sind das Gegenteil. Aber diese Lehrkraft ist exemplarisch für eine Pädagogik, die nichts mehr ist als ernüchterte Berufung, als plumpe Karrieremöglichkeit für Menschen ohne Kinderbezug. Welche Charakterschulung erhält man an Schulen, in denen Pädagogik schwarz und Pädagogen fachfremd sind?
Als berufsvorbereitende Lehranstalt hat es geordnet und glatt zu gehen, nichts darf aufhalten, nichts behindern. Kinder sind aber nun mal nicht korsettfähig, jedenfalls sind sie es nur bedingt. Und sie sollten es auch nicht voll und ganz sein. Erwachsene mit sozialen Ansätzen, voller Originalität und Esprit, innovative Persönlichkeiten werden sie vorallem, wenn sie ihrer Persönlichkeit gemäß schulisch aufgehoben sind. Das meint nicht, irgendwelche Talente per Förderprogramm zu bergen oder auszubauen, sondern in erster Linie die Charakterschulung. Aber an Schulen, die immer weniger Charakter haben, kann man charakterliche Attribute nicht herauskitzeln. So ist zwar jede Kleinigkeit schon Gewalt, aber der Ellenbogen im Bezug auf das soziale Miteinander, als Durchsetzungskörperteil der Starken gegenüber den Schwachen ist erlaubt und gewollt. Ellenbogen sind aber keine Charaktereigenschaft, sondern ihr fahrlässiger Gebrauch ist die Metapher einer Charakterlosigkeit, die in Schulen mehr und mehr um sich greift.

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