In unserem täglichen Leben spielen wir eine Menge verschiedener Rollen, und je unsicherer wir sind, desto mehr verbiegen wir uns, um dem Bild gerecht zu werden, das sich andere Menschen davon machen, wie “man” in einem bestimmten Bereich sein sollte. Doch wenn wir es genau betrachten, dann ist den Menschen in Deiner Umgebung am meisten gedient, wenn Du authentisch und echt bist, wenn Du also einfach Du selbst bist. Um auf diese Weise Mutter, Vater, Sohn, Tochter, Freund, Freundin, Partner, Partnerin, Arbeitgeber, Mitarbeiter, Kollege, Schüler oder Lehrer zu sein, brauchst Du nur ein paar Schichten Deiner Fassade abzulegen und mehr von Dir selbst zu zeigen. Dann kommst Du anderen bedeutend näher und kannst Deinen vielfältigen Aufgaben viel besser nachkommen.
Das Fundament dazu haben wir in den vergangenen 12 Wochen bereits gelegt und uns Deinem wahren Wesen auf verschiedenen Wegen genähert. Mittlerweile achtest Du bewusst auf Dein eigenes Verhalten, gestaltest Dein Umfeld mehr nach Deinen wirklichen Bedürfnissen, weißt besser, was Du denkst und fühlst, bist Dir über Deine Werte und Stärken etwas klarer geworden und vielleicht hattest Du sogar den Mut, und konntest der Seite an Dir begegnen, die Du nicht so gerne anschauen wolltest.
Hast Du Dich schon einmal gefragt, wozu all das gut ist? Warum tun Menschen, was sie tun? Warum sind Menschen, wie sie sind? Warum sehen wir die Dinge so unterschiedlich? Warum denken und fühlen wir anders als andere? Warum ist Dir dieses wichtig und mir jenes? Und warum bist Du in manchen Dingen so begabt, die anderen schwer fallen?
Gibt es vielleicht etwas, das nur Du tun kannst, weil Du eben so bist, wie Du bist? Dient das alles etwas viel Größerem? Entdeckst Du in diesem Kurs vielleicht noch viel mehr, als ein paar Möglichkeiten, Dein Selbstwertgefühl zu steigern? Findest Du hier vielleicht Dich selbst und das, wozu Du hier bist? Schon möglich. Schauen wir uns dazu heute einmal an, worin sich einzelne Persönlichkeiten überhaupt unterscheiden und ob es da wie auf der Bühne so etwas wie feste Rollenfächer gibt, für die wir besetzt werden können – oder die wir uns vielleicht auch selbst ausgesucht haben.
Das beste Modell von allen
Es gibt eine große Anzahl von Modellen, mit deren Hilfe immer wieder versucht wurde, die Menschen in verschiedene Kategorien einzuteilen: angefangen bei der fast 2500 Jahre alten klassischen Temperamentenlehre, die eine simple Einteilung in Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker und Phlegmatiker vornahm, über die Zuordnung der einzelnen Sternzeichen (ich selbst bin zum Beispiel Wassermann) bis zum heutigen DISG-Modell, das gerne für Persönlichkeitstests verwendet wird.
Als ich vor vielen Jahren den Wunsch in mir verspürte, mich selbst und andere besser zu verstehen, habe ich mich mit einigen dieser Methoden befasst und sehr viel gelernt. Der bereits in Schritt 12 erwähnte Carl Gustav Jung hätte mich sicher ganz klar als “introvertiert” eingestuft. Und jede philosophische und psychologische Schule hat wieder andere Einteilungen. So habe ich viel Zeit damit verbracht, mir selbst auf die Schliche zu kommen. Doch so recht passte das alles nicht. Schließlich wurde ich dann aber fündig und entdeckte für mich das Enneagramm.
Die Aussagekraft und Treffsicherheit dieses Persönlichkeitsmodells fasziniert mich auch heute noch ebenso wie seine vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten, und ich gewinne immer wieder neue und tiefere Erkenntnisse. Es verbesserte meine Menschenkenntnis im privaten und beruflichen Leben enorm. Fern davon, Menschen in “Schubladen zu sortieren”, hilft es mir dabei, zu erkennen,
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worin sich Menschen unterscheiden,
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welche Stärken und Schwächen die einzelnen Persönlichkeitstypen auszeichnen,
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wie sich jeder Mensch mit seinen Licht- und Schattenseiten annehmen kann,
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wo mögliche Hindernisse für die persönliche Entwicklung liegen,
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welche Entwicklungsrichtung jeweils förderlich ist,
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wo typische Stolpersteine im Umgang mit anderen Menschen liegen und
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wie ich mit unterschiedlichen Menschen besser zurechtkommen kann.
Es würde den Rahmen dieses Kurses sprengen, wenn ich Dir dieses Modell in allen Details und mit all seinen Möglichkeiten vorstellen wollte. Doch ich möchte diesen und den nächsten Schritt nutzen, um Dir wenigstens einen Einblick in dieses System zu geben, mit dem Du die Rolle, die Du in diesem Leben wirklich spielen sollst und Dein wahres Lebensthema besser erkennen kannst.
Die neun Persönlichkeitstypen
Das Enneagramm unterscheidet neun verschiedene Persönlichkeitsmuster und beschreibt ihre Beziehungen zueinander. Der Name stammt aus dem Griechischen: ennea ist das griechische Wort für “neun” und gramma bedeutet “Modell”. Jeder dieser neun Persönlichkeitstypen verfügt über ein anderes System von Werten und nimmt eine andere Wirklichkeit wahr als die anderen; jeder hat etwas anderes ins Leben einzubringen und erwartet etwas anderes von ihm.
Ziel ist es, in einem Prozess des Wachstums und der Erneuerung die gesunden Aspekte aller neun Typen in uns aufzunehmen.
Die nun folgenden Beschreibungen der neun Typen des Enneagramms sind sehr verkürzt und dienen lediglich der ersten Orientierung für diejenigen, denen dieses Modell nicht bekannt ist. Wenn Du selbst damit arbeitest, darfst Du das von mir Gesagte gerne in einem Kommentar ergänzen. Wenn Du es näher kennenlernen möchtest, bekommst Du dazu noch weiteres Material von mir.
Typ 1
Menschen vom Typ 1 streben nach Vollkommenheit, sie wollen alles richtig machen: ein Ideal, das nicht erreichbar ist. Sie zeichnen sich aus durch Objektivität, Integrität und Gerechtigkeitssinn. Ihr unbestechliches Gefühl für Wahrheit und Gerechtigkeit verleiht ihnen ein starkes moralisches Rückgrat. Für ihre Überzeugungen sind sie bereit durchs Feuer zu gehen. Aus Angst, Fehler zu machen, sind Menschen dieses Typs darauf bedacht, möglichst überlegt und vernünftig zu reagieren. Spontaneität zählt deswegen nicht zu ihren Stärken.
Dieses unbedingte Streben nach Perfektion wächst sich bei EINSern leicht zu Kritiksucht, Nörgelei und Selbstgerechtigkeit aus. Bei ihnen findet sich häufig eine ins Pedantische gehende Ordnungsliebe. Gerade die Angst vor der eigenen Unvollkommenheit kann EINSer zu gnadenlosen Richtern fremder Fehler und Mängel machen. Bei ihren Mitmenschen verbreiten sie oft das Gefühl, ihren hohen moralischen Ansprüchen nicht genügen zu können.
Obwohl EINSer einen kontrollierten und disziplinierten Eindruck machen, ist die vornehmliche Leidenschaft, die sie antreibt, der Zorn. Ihr Zorn richtet sich auf jede Art von Unvollkommenheit, die für sie überall zu entdecken ist. Diese Leidenschaft, die den EINSern in ihren Kämpfen um Weltverbesserung ihre Energie verleiht, treibt sie auch in eine Zwickmühle. Denn Zorn ist selbst eine Unvollkommenheit, die unter dem Anspruch absoluter Perfektion nicht sein darf. Es stellt sich die Frage: Wohin mit dem Zorn? Wohin fliehen vor dem eigenen kritischen Blick?
Der Abwehrmechanismus, den EINSer ausprägen, um sich diese unerwünschten Gefühlsaufwallungen vom Leibe zu halten, ist Reaktionskontrolle. Damit ist gemeint, dass EINSer sich einer ständigen Selbstkontrolle aussetzen. Sie installieren einen mächtigen inneren Zensor, der in Sekundenbruchteilen entscheidet, welche die richtige und welche die falsche Regung ist. Ein häufig beschrittener Weg, den Zorn in kontrollierte Bahnen zu lenken, ist die Arbeitswut. Ständig gilt es, irgendwelchen Pflichten nachzukommen, sodass das sprichwörtliche nachfolgende Vergnügen sich selten einstellt.
Aus dem Teufelskreis, dem Zorn mit einer fast schon besessenen Selbstkontrolle beizukommen, kann sich ein EINSer nur befreien, wenn er seinen Zorn annehmen kann und erkennt, dass es nicht nur den einen richtigen Weg gibt. Er muss lernen, Pflicht, Ordnung und die Verbesserung der Welt auch mal links liegen zu lassen, zu spielen, zu feiern und das Leben zu genießen. Ihm tut die Einsicht gut, dass nicht alles durch aktiven Einsatz zu beherrschen ist. In der Begegnung mit dem Wachstum in der Natur können EINSer erfahren, dass Dinge gedeihen, auch ohne dass ständig kontrollierend eingegriffen wird.
Typ 2
Menschen vom Typ 2 wollen gebraucht werden. Aus diesem Streben resultiert die Fähigkeit, sich ganz auf die Bedürfnisse anderer Menschen einstellen zu können. Persönlichkeiten mit diesem Muster sind deshalb Beziehungsmenschen. Sie verfügen über einen großen Freundes- und Bekanntenkreis. Für die Sorgen und Nöte der anderen haben sie stets ein offenes Ohr. In ihren Beziehungen verhalten sie sich besonders emotional, weil es ihnen in erster Linie darum geht, geliebt zu werden.
Dieses unbedingte Streben nach Anerkennung, die ZWEIer besonders in der Dankbarkeit ihrer Mitmenschen erleben, führt leicht zu einem aufdringlichen Buhlen. Dann tritt zu Tage, dass ZWEIer alle ihre Anstrengungen für die anderen insgeheim nur um der gezeigten Dankbarkeit willen unternommen haben. Spüren sie gar das Gegenteil, Abstand oder Kritik, reagieren sie gekränkt und mit demonstrativem Liebesentzug. Sie unternehmen alles, um die Abhängigkeit der mit Liebesdiensten Überschütteten wieder herzustellen.
Dass ausgerechnet der Stolz die treibende Leidenschaft solcher Menschen sein soll, die ganz in der Sorge um die anderen aufgehen, erscheint nur auf den ersten Blick unglaubhaft. Achtet man darauf, dass es der ZWEI in alle ihren Beziehungen darauf ankommt, gebraucht zu werden, also wichtig und bedeutend zu sein, dann wird der Stolz als Antriebsenergie durchaus plausibel. Das Dilemma des ZWEIers besteht darin, dass er in der Zuwendung zum Mitmenschen sein Ego gerade immer weiter aufbläst. Die eigene Hilfsbedürftigkeit wird dadurch systematisch verstellt. Stets findet sich jemand, der Hilfe dringend nötig hat.
Damit der Stolz auf die eigenen großartigen Liebesbezeugungen nicht durch die Erkenntnis der eigenen Bedürftigkeit Schaden nimmt, prägen ZWEIer den Abwehrmechanismus der Verdrängung aus. Sie sind Meister darin, die Bedürfnisse anderer wahrzunehmen und zu bedienen und die eignen in vollständige Vergessenheit geraten zu lassen. Vielleicht ist das der Grund, weshalb sich in der Gruppe der ZWEIer häufig eine Suchtgefährdung findet. Die “Belohnung” mit Süßigkeiten, Shoppen oder Ähnlichem verdrängt die ausfallende Befriedigung der eigenen Bedürfnisse.
Aus dieser Fixierung auf die Dankbarkeit der anderen können sich ZWEIer dann befreien, wenn sie die eigene Hilfsbedürftigkeit erkennen und den Stolz darauf, dass andere auf sie angewiesen und ihnen dankbar sind, loslassen. Heilsam für sie ist, wenn sie Demut lernen können, wenn sie aus der Rolle des souveränen Helfers für abhängige Bedürftige aussteigen können.
Typ 3
Gut anzukommen, ist das bestimmende Ziel für Menschen vom Typ 3. Sie möchten für ihre Leistungen bewundert werden. Aus diesem Grund opfern sie alles dem Erfolg. Sie gehen ganz in ihren Aufgaben auf und verfolgen energisch deren Erledigung; allerdings nur so lange, wie sie Erfolg versprechen und Prestige einbringen. Da er alles darauf ausrichtet, glänzend dazustehen, ist der DREIer enorm anpassungsfähig. Er ist in der Lage, sich stets an dem auszurichten, was jeweils ankommt. Das prädestiniert ihn zum idealen Mitarbeiter jeder Organisation. Ob es sich um das Managen eines ausbeuterischen Unternehmens oder die Organisation der dagegen aufbegehrenden Arbeiter handelt, eine DREI widmet sich der ihr gestellten Aufgabe mit aller Energie. Es kann geschehen, dass DREIer im Laufe ihres Lebens sich mit gleichem Tatendrang in solchen sich widersprechenden Aufgaben engagieren.
Die vollständige Identifikation mit der jeweils zu erledigenden Sache ist der der DREI eigene Abwehrmechanismus. Stets gilt es, neue Aufgaben zu erfüllen, um möglichst unter dem Beifall der anderen den Erfolg auszukosten. Die rasende Flucht vor dem Selbst, das sich selbst von sich fortjagt, findet am ehesten ein Ende in der Erfahrung des Scheiterns. Da der dem Daueraktivismus ausgesetzte Körper zwangsläufig irgendwann einmal streikt, ist Krankheit für DREIer eine Chance auszusteigen. Allerdings besteht die Gefahr, dass die Gesundung erneut zu einem Projekt gemacht wird, das es erfolgreich zu bestehen gilt. Generell führt der Weg zur Befreiung für den DREIer weg von der Außenorientierung hin zu sich selbst. Da er in einer leistungsfixierten Gesellschaft wie der unseren sich über mangelnden Beifall nicht zu beklagen braucht, ist dieser Weg sehr beschwerlich.
Typ 4
Der rote Faden, der das Leben von Menschen des Typs 4 durchzieht, ist die Suche nach sich selbst. Sie umgibt die Aura einer unbestimmten Sehnsucht, die nie Erfüllung findet. Diese Sehnsucht nach dem ganz anderen bewirkt, dass VIERer häufig künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten suchen. In der Welt der Kunst lässt sich die Unbestimmtheit und die durch keine Realität erfüllbare Sehnsucht am besten ausdrücken. Die Uneindeutigkeit und Interpretationsbedürftigkeit der Kunst kommt der unsicheren Selbstwahrnehmung des VIERers sehr entgegen. Sie dient aber vornehmlich der Selbstinszenierung. Das Kunstwerk wird hier einzig als Ausdruck des Künstlers betrachtet.
Obwohl VIERer ganz auf sich und ihre Gefühlswelten konzentriert zu sein scheinen, sind sie doch wie die ZWEIer und DREIer außenorientierte Typen. Im ständigen Blick auf die anderen versuchen VIERer ihre Identität in der Abgrenzung zu finden. In allen Lebenslagen präsentieren sie sich als Nonkonformisten. Auf der anderen Seite führt die stets im Unbestimmten, Ahnungsvollen verbleibende Selbstwahrnehmung dazu, dass VIERer häufig die Vermutung hegen, andere hätten etwas, was ihnen fehlt. Auch dieses Manko inszenieren sie als großes Gefühl. Sie fühlen sich häufig unverstanden und als Außenseiter. Die Tendenz zur Absonderung und der Beschäftigung mit der eigenen Gefühlswelt verstärkt sich dadurch sogar noch.
Bereits hieraus lässt sich ersehen, dass die die VIERer antreibende Leidenschaft der Neid ist. Sie werden hin und her gerissen von dem Bestreben, sich abzugrenzen, und der Anziehungskraft, die das Leben der Mitmenschen auf sie ausübt. Es verspricht ihnen eine Erfüllung, die das eigene Leben nicht hat.
Der Abwehrmechanismus, den der Typ 4 entwickelt, um sich die damit verbundenen Gefühle der eigenen Unzulänglichkeit vom Leibe zu halten, äußert sich in einer mit großen Gefühlen verbundenen Selbstinszenierung. Da es sich aber um eine künstlich hergestellte Identität handelt, vergeht das Gefühl, authentisch und echt zu sein, so schnell, wie es gekommen ist. Es macht dann wieder dem Eindruck Platz, irgendwie unvollständig zu sein.
Aus dem Auf und Ab der extremen Gefühlslagen findet der VIERer nur heraus, wenn er einen gesunden Realismus entwickelt. Er muss sich fragen, ob es nicht doch das kleine Glück oder die kleine Traurigkeit auch tut. Befreiung heißt für VIERer, im Hier und Jetzt zu leben, zwischen den extremen Gefühlsaufwallungen eine Balance herzustellen. Echtheit und Authentizität lassen sich auch im “banalen” Alltag, im Kleinen und Unscheinbaren finden.
Typ 5
Das für Menschen vom Typ 5 wesentliche Verhalten ist durch Distanz zu ihrer Umwelt geprägt. Dabei möchten sie sich hauptsächlich vor zu viel emotionaler Nähe schützen. Ihr Kontakt zur Umwelt findet quasi nur gefiltert statt. Als Filter setzen FÜNFer ein systematisierendes, Überblick verschaffendes Denken ein. Emotional berührende Erfahrungen halten sie sich vom Leibe, indem sie diese in größere Zusammenhänge eingebettet und somit lediglich theoretisch-analytisch betrachten. Neben dem hauptsächlich theoretischen Weltumgang brauchen die FÜNFer ihre Rückzuggefilde, in denen sie für sich sein können. Sie hassen Aufdringlichkeit und Eindringlinge.
Allerdings bedeutet das distanzierte Weltverhältnis keine strikte Abkehr von der Welt. FÜNFer suchen nach Informationen, Gedanken und Theorien, die sie ihren Systemen und Gedankengebäuden einverleiben können. Dieser angehäufte Schatz dient dann als Schutzwall vor den andrängenden Erfahrungen, die sie berühren könnten. Bei manchen FÜNFern kann sich dies auch in einer Sammelleidenschaft für materielle Dinge äußern. Auch hier lässt sich Schutz vor Berührung finden.
Die Leidenschaft, die Menschen vom Typ 5 antreibt, ist der Geiz. Verständlich wird das, wenn man bedenkt, dass die Besitztümer, die die FÜNF hortet und um sich herum aufstellt, die Zudringlichkeiten der Welt abwehren sollen. Würden sie von ihren Schätzen abgeben, so hieße das, den Schutz zu verlieren. Da sie keine Nähe zulassen wollen, geizen sie besonders mit ihrer eigenen Person. Sie bleiben in zwischenmenschlichen Beziehungen zwar höflich, aber unterkühlt und beobachtend.
Der FÜNFern entsprechende Abwehrmechanismus ist Isolierung und Rückzug. Geraten sie in emotional aufgeladene Situationen, die ihren ruhigen Beobachtungsposten gefährden, ziehen sie sich zurück, verlassen den Raum oder hüllen sich in Schweigen. Danach treffen sie alle nötigen Vorkehrungen, um nicht mehr in eine solche Situation zu geraten. Da der Wunsch, ihre Gedankengebäude mit weiterem Wissen und mehr Informationen anzufüllen, sie der Welt immer wieder in die Arme treibt, lassen sich erneute Anlässe zum Rückzug kaum vermeiden.
Dem Dilemma, sich der Welt zuwenden zu müssen, um daraus das Wissen zu gewinnen, das vor ihr schützt, kann die FÜNF nur entrinnen, wenn sie sich von Erfahrungen berühren lässt. Dazu gehört in erster Linie die Annahme der eigenen Körperlichkeit. Lebendige Erfahrungen gewinnen Menschen vom Typ 5 nur durch eine authentische, geerdete Selbstwahrnehmung. Der Abstieg aus dem Elfenbeinturm beginnt mit der Beheimatung im eigenen Körper, im wahrsten Sinne des Wortes mit Inkarnation.
Typ 6
Das Lebensziel von Menschen des Typs 6 ist, Sicherheit zu bekommen, die sie in sich selbst nicht finden. Deshalb suchen sie sie bei anderen, bei einzelnen Personen, Gruppen oder Ideologien. Sie erwarten, dass diese eine durch Autorität abgesicherte Verlässlichkeit bieten. Normen, Gesetze und Vorschriften halten SECHSer deshalb auch penibel ein. Da aber Autoritäten grundsätzlich immer auch bezweifel- und angreifbar sind und keine absolute Sicherheit bieten können, ist die Loyalität der SECHSer stets von einem tiefen Misstrauen begleitet.
Solange diejenigen, an die sie sich anlehnen, ihnen Sicherheit geben, lassen sich SECHSer gerne führen, passen sich hierarchischen Strukturen bereitwillig an und führen die ihnen anvertrauten Aufgaben zuverlässig aus. Haben sie ihren Platz gefunden, so erleben sie ihre gesicherte Position als bedroht durch jede Art von Veränderung. Diese Zerrissenheit zwischen bedingungslosem Anlehnungsbedürfnis und tiefem Misstrauen erklärt, weshalb die SECHS sowohl ängstlich anpassungsbereit als auch übertrieben wagemutig auftreten kann. Mitunter bekämpft die SECHS ihre Angst vor der stets drohenden Unsicherheit, indem sie sich vorbeugend in Gefahrensituationen begibt.
Dass die die SECHS antreibende Leidenschaft die Angst ist, kann aus dem Gesagten bereits entnommen werden. Sie entstammt dem Gefühl der Wurzellosigkeit, der Unsicherheit und Bedrohung, die SECHSer zwar in sich tragen, aber nach außen projizieren. Die Bedrohung, die sie aus ihrer Umwelt auf sich zukommen sehen, ist ihr eigenes Produkt. Ähnlich wie Menschen vom Typ 5 verstellen sich auch solche vom Typ 6 den Zugang zu sich selbst. Was dem einen die Welterklärung, ist dem anderen das Katastrophenszenario.
Der von SECHSern genutzte Abwehrmechanismus ist die Projektion. Sie sind Meister darin, von anderen kaum beachtete Kleinigkeiten zu Indizien für anstehende apokalyptische Schrecknisse zu stilisieren. Diese Verschiebung eigener Schwächen auf andere findet im Phänomen des Sündenbocks einen klassischen Ausdruck. Wird die Welt ständig auf Anlässe für mögliche Katastrophen hin beobachtet, kann die Sehnsucht nach Sicherheit und Geborgenheit natürlich nie gestillt werden.
Befreiung aus dieser Zwangslage erlangt die SECHS nur, wenn sie es lernt, auf sich selbst zu vertrauen, Autonomie zu gewinnen und sich von Autoritäten zu befreien. Allerdings sind gerade SECHSer selten in der Lage, sich autonom aus ihrer Fixierung zu lösen. Sie bedürfen einer Begleitung, die ihnen Vertrauen gibt, ohne für sie zur Autorität zu werden und ihnen somit Entscheidungen abzunehmen.
Typ 7
Menschen vom Typ 7 zeichnen sich dadurch aus, dass sie in ständig wechselnden Erlebnissen gesteigerten Genuss suchen. Deshalb tragen sie durch intensive Planung ihrer Aktivitäten Vorsorge, mit entsprechenden Genuss verheißenden Erlebnissen versorgt zu werden. Wenn sie Genuss und Freude auch wirklich empfinden können, so hetzen sie dennoch auch schon zum nächsten Erlebnis. Ihre größte Furcht ist es, in ein Loch zu fallen, in dem Schmerz und Leid auf sie lauern könnten. SIEBENer haben etwas von Kindern. Sie sind abenteuerlustig, neugierig und verspielt, voller Energie und Begeisterungsfähigkeit. Das Leben ist für sie angefüllt mit Möglichkeiten, Freuden und Wundern. Dies strahlen sie auch aus. Meistens sind sie gut gelaunt und versuchen auch andere aufzuheitern.
Gerade die Schnelllebigkeit und die vielen Möglichkeiten, die sich ihnen darbieten und alle wahrgenommen werden wollen, bergen auf Dauer die Gefahr, dass es zu einem nachhaltigen Genuss gar nicht mehr kommt. Es wartet bereits das nächste vielversprechende Event oder Abenteuer. Folge dieser Schnelllebigkeit ist auch, dass SIEBENer zwar aufrichtig daran interessiert sind, ihre Mitmenschen glücklich zu machen, aber bei ausbleibendem Erfolg auch schnell ihrer Wege ziehen.
Die Leidenschaft, die die SIEBEN antreibt, ist die Unersättlichkeit und Maßlosigkeit. Das Verlangen nach immer mehr ist Ausdruck der Furcht, in Situationen zu geraten, in denen nichts geschieht und sich negative Gefühle ausbreiten können. Aus Angst, etwas zu verpassen, gehen SIEBENer lieber auf drei Partys an einem Abend, als auf eine zu verzichten. Sie tun deshalb gerne mehrere Dinge gleichzeitig: telefonieren und fernsehen, ein Gespräch führen und in einer Zeitschrift blättern, essen und dabei etwas anderes erledigen.
Um einer möglichen Konfrontation mit Leid und Schmerz aus dem Weg zu gehen, haben SIEBENer den Abwehrmechanismus der Rationalisierung entwickelt. Das meint nicht, dass der erlebnisorientierte SIEBENer sich zum kühl überlegenden Theoretiker wandelt, sondern dass er sich die Fähigkeit angeeignet hat, aus etwas Unangenehmem noch etwas Positives zu machen. Ein beliebtes Argument ist zum Beispiel, es ändere nichts an einer Gegebenheit, wenn man sich darüber ärgere.
Aus dem Kreislauf, immer neuen Genussversprechen nachzujagen, nur um nach dessen Erfüllung wieder weiterzujagen, können SIEBENer nur befreit werden, wenn sie sich “entschleunigen” und lernen, dass weniger auch mehr sein kann. Ohne ihr positives Wesen einzubüßen, lernen sie, auch bei Schmerz und Trauer zu verweilen, ohne sie schönzufärben oder vor ihnen die Flucht zu ergreifen.
Typ 8
Menschen vom Typ 8 streben nach Eindeutigkeit. Sie können deshalb bedingungslos ihre Absichten verfolgen, die sie für die wahren und gerechten halten. Das verleiht ihnen einen robusten, kämpferisch-zielstrebigen und entschlossenen Charakter. Andererseits äußert sich ihr Wunsch nach Eindeutigkeit in einem Denken in Schwarz und Weiß; Menschen, mit denen sie in Beziehung stehen, werden somit schnell in Freund und Feind unterteilt. Die Ausdrucksweise von ACHTern ist direkt und teilweise sogar recht deftig.
Aufgrund dieser Entschiedenheit befinden sich ACHTer in einem ständigen Kampf um ihre Position. Deshalb finden in ihren Augen auch zwei Typen von Menschen Gnade: die verfolgte Unschuld und der ebenbürtige Gegner. Für sie ist der Kampf mit einem ebenbürtigen Gegner eine Art Anerkennung. Ja, sie suchen darin sogar Nähe zu ihrem Gegenüber. Kompromisse zu machen, Entscheidungen zurückzunehmen und Fehler einzugestehen, ist nicht ihre Sache. Sind sie nicht in der Lage, in hierarchisch strukturierten Organisationen die Führungsposition einzunehmen, so neigen sie zur Rebellion. Hier können sie ihre Stärke im Kampf mit der etablierten Macht bewähren.
Die ACHTer antreibende Leidenschaft sieht das Enneagramm in der Schamlosigkeit. Gemeint ist damit die aus unbedingtem Durchsetzungswillen und Entschiedenheit resultierende Rücksichtslosigkeit. Sie missachten die vom Gegenüber gezogenen Grenzen. Das ist die negative Seite der Medaille, auf deren anderen Seite der bewundernswürdige Einsatz für die eigene Sache steht.
Um alles, was ihr klar eingeteiltes Weltbild und ihre Entschiedenheit gefährdet, von sich abzuhalten, entwickeln ACHTer den Abwehrmechanismus der Verleugnung. Besonders bezogen auf die eigene Person schieben sie jeden Anflug von Schwäche oder Zweifel rigoros beiseite. So sehr sie sich für die verfolgte Unschuld mit aller Macht einsetzen, verstehen sie es doch andererseits meisterlich, das verletzte Kind in sich zu verleugnen.
Von dem Zwang, in allen Lebensbereichen Stärke zeigen und der eigenen Position ihr Recht verschaffen zu müssen, können ACHTer nur befreit werden, wenn sie einen Zugang zu ihrer eigenen Schwäche finden. Das bedeutet, klein beigeben und auch einmal Kompromisse machen zu können. Leicht fällt dieser Weg den ACHTern nicht, weil ihnen alle Beschäftigung mit ihrem Innenleben als schwächliche Tatenlosigkeit gilt.
Typ 9
Was sich Menschen vom Typ 9 am sehnlichsten wünschen, ist Harmonie. Um nicht in Konflikte zu geraten, können sie ein erstaunliches Einfühlungs- und Anpassungsvermögen entwickeln. Da sie in Konfliktfällen häufig allen Seiten gerecht werden wollen, sind sie die idealen Vermittler und Friedensstifter. NEUNer wirken auf ihre Umwelt bescheiden und demütig. Ihr Hauptmotiv, sich nicht in den Vordergrund zu stellen, ist aber die Konfliktvermeidung. Wer eine herausgehobene Position einnimmt, ist bekanntlich leicht angreifbar. Dem wollen NEUNer aber mit allen Mitteln aus dem Wege gehen.
Ihre Konfliktscheu bewirkt bei NEUNern aber auch, dass sie sich schwer tun, Position zu beziehen und Entscheidungen zu treffen, die keine allgemeine Zustimmung finden. Alles, was Disharmonien, Ärger und Streit verursachen kann, schieben sie von sich weg und auf die lange Bank. Hinter der Gabe, beruhigend, ausgleichend und versöhnend zu wirken, lauert die Gefahr der Gleichgültigkeit und der Apathie.
Die Leidenschaft, die den NEUNer prägt, ist die Trägheit. Diese Antriebsschwäche ist eine Folge der Angst, durch Engagement sich zu sehr zu profilieren und dadurch Disharmonien zu erzeugen. Deshalb schätzt er es, wenn alles so bleibt, wie es ist und in den gewohnten Bahnen verläuft. In diesem Rahmen ist er durchaus willig, seine Aufgaben zu erledigen. Was NEUNern völlig abgeht, ist Initiative. Bei unvermeidlichen Konflikten verfolgen sie entweder die Strategie des Aussitzens oder der Flucht. Man kann von ihnen dann Äußerungen hören wie “Immer mit der Ruhe! Das wird schon wieder” oder “Dafür bin ich nicht zuständig. Das müsst ihr entscheiden”.
Im Abwehrmechanismus des NEUNers, der Betäubung, findet der Wunsch, mit Konflikten in Ruhe gelassen zu werden, seine Entsprechung. Wenn auch der Griff zu Drogen bei NEUNern vorkommt, so ist ihr bevorzugtes Mittel, die ersehnte Ruhe zu finden, der Schlaf. Schlaf ist der ideale Zufluchtsort, wenn einem das Leben zu anstrengend und zu fordernd wird. Den Drang zum Rückzug darf man allerdings nicht als einen zur Isolation missverstehen. NEUNer möchten mit anderen Menschen in Harmonie leben.
Der Tendenz zu Apathie und Gleichgültigkeit können NEUNer nur dann entgegenarbeiten, wenn es ihnen gelingt, einen Standpunkt einzunehmen. Dieser ermöglicht es ihnen, Prioritäten zu setzen und sich zu engagieren. Allerdings ergibt es wenig Sinn, so etwas von ihnen zu fordern, da sie Konflikte wittern und ihre Abwehrstrategien aktivieren. NEUNer brauchen für ihre Entwicklung ein sie unterstützendes harmonisches Umfeld.
So weit der erste grobe Überblick. Ich denke, das war mehr als genug Text für einen Tag. Auch wenn die vielen Möglichkeiten dieses Modells hier noch kaum deutlich werden konnten, hast Du Dich vielleicht schon in dem einen oder anderen Punkt wiedererkannt. Ahnst Du bereits, wo Deine Schwierigkeiten liegen und wie Du Dich davon befreien kannst? Von welchem dieser Typen trägst Du am meisten in Dir? Und welche Anteile findest Du sonst noch? Und kannst Du auch die Menschen, mit denen Du tagtäglich zu tun hast, in diesem Modell wiederfinden?
In den kommenden beiden Wochen geht es weiter mit der Vorstellung des Enneagramms. Wahrscheinlich kannst Du dann besser nachvollziehen, warum ich es für das Beste halte, was es in diesem Bereich gibt.
Bis dahin wünsche ich Dir eine gute Zeit,
Dein Jürgen
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