Schreckensherrschaft in Nicaragua

In seinem Bericht gibt der Agronom und langjährige Kenner Nicaraguas Laurent Levard einen Überblick über die brutalen Repression der Ortega-Regierung der letzten Monaten und deren Hintergründe. Übersetzung aus dem Französischen: Walter B.

Schreckensherrschaft in Nicaragua

Protestmarsch vom 23. September 2018

300 bis 430 Tote. Mehr als 2’000 Verletzte. Systematische Verfolgung von Oppositionellen. Hunderte von Verschwundenen. Mehr als 300 Personen, die wegen «Terrorismus» zu bis zu zwanzig Jahren Gefängnis und mehr verurteilt worden sind. Mehrere Anführer der jüngsten sozialen Proteste, die untergetaucht oder ins Exil gegangen sind. Tausende von NicaraguanerInnen, die ins Ausland geflohen sind, hauptsächlich nach Costa Rica, bis Ende Juli alleine in dieses Land 23’000: In Nicaragua, dem kleinen mittelamerikanischen Land mit sechs Millionen EinwohnerInnen, besteht seit Mitte Juni eine wahre Schreckensherrschaft. Die Regierung Ortega hatte damals, nach drei Monaten beispielloser sozialer Proteste, die Kontrolle über das Land wiedererlangt. Am 31. August, ein Tag nach Veröffentlichung eines Berichts über die schweren Menschenrechtsverletzungen in Nicaragua, wurde der Beauftragte des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte durch die Regierung des Landes verwiesen.

Die soziale Bewegung begann Mitte April mit Studentenprotesten gegen die Unfähigkeit der Regierung, die Brände im Naturschutzgebiet Indio-Maiz einzudämmen – und gegen deren mutmassliche Komplizenschaft bei der Plünderung und Zerstörung der tropischen Wälder durch Einzelpersonen und private Unternehmen. Hinzu kamen Demonstrationen von RentnerInnen und StudentInnen gegen die Reform der Sozialversicherungen (INSS). Der Auslöser für die beispiellosen sozialen Proteste war allerdings die Niederschlagung jener Demonstrationen gegen die Reform der INSS. Innert weniger Tage wurden vierzig Menschen – in ihrer Mehrheit StudentInnen – durch Polizeikräfte und Bewaffnete in Zivil, die unter deren Schutz standen, erschossen. Hunderte wurden verletzt. Es war das erste Mal in der Geschichte Nicaraguas, dass an StudentInnen ein derart grosses Massaker verübt wird. Im heutigen Zeitalter der sozialen Medien, wo Videos und Fotos innert Stunden verbreitet werden, führte das zu landesweiter Empörung und Auflehnung.

Es ist gewiss nicht das erste Mal, dass die nicaraguanische Zentralgewalt, unterstützt von Bewaffneten in Zivil, eine StudentInnenbewegung unterdrückt. Doch noch nie hatte die Repression solche Ausmasse angenommen. Die Auflehnung ist auch eine Folge jahrelang aufgestauter Unzufriedenheit und Frustrationen. Die meisten jungen Leute haben Eltern und Grosseltern, die den Kampf gegen Somoza und die sandinistische Revolution in den 1980er Jahren miterlebt und daran teilgenommen hatten. Sie sind oft aufgewachsen unter dem Einfluss eines entsprechenden historischen Bezugsrahmens: des Engagements und der Anteilnahme am Leben des Staates, der Hoffnung auf Veränderung usw. Diese Jugend, die dank der sozialen Medien weltoffen ist, hat sich ebenso gegen die Alleinherrschaft des Paares Ortega-Murillo aufgelehnt. (Während Daniel Ortega Präsident der Republik ist, bekleidet seine Gattin das Amt der Vizepräsidentin und besitzt in Wirklichkeit einen Grossteil der Macht.) Der bewusstere, politisiertere Teil der Jugend, der auch an ökologischen und feministischen Fragen interessiert ist, war zudem aufgebracht über die Affäre um den interozeanischen Kanal, der in völliger Intransparenz geplant wurde und massive Vertreibungen zur Folge haben wird. Dies zugunsten hauptsächlich ausländischer Interessen, verbandelt mit der lokalen Oligarchie. Nicht weniger entrüstet ist die Jugend über die Umweltzerstörung und die Tatenlosigkeit, ja Komplizenschaft der Machthaber gegenüber dieser Zerstörung oder auch über die Allianz der Machthaber mit der Kirche und über die Kriminalisierung der Abtreibung.

Die sozialen Mobilisierung weitete sich schnell aus: mit der Besetzung der Universitäten durch die StudentInnen, mehreren grossen friedlichen Märschen, davon einer am 30. Mai in Managua mit 300’000 TeilnehmerInnen, dann mit der gleichzeitigen Errichtung Hunderter Barrikaden in Städten und auf Landstrassen, um auf die Regierung Druck auszuüben und die aufständischen Quartierte zu schützen. Bald wurden Forderungen nach Gerechtigkeit für die Toten, dem Rücktritt des Paares Ortega-Murillo und nach freien und transparenten Wahlen laut. Ein wesentliches Merkmal der Bewegung – das sich auch als eine Schwäche erweist, wie man heute, in der Phase der Repression, sieht – ist ihr spontaner Charakter. Die einzige bereits bestehende Protestbewegung war jene gegen den Kanal, die Bauern und Umweltschützer zusammengebracht hat. Die StudentInnenbewegung und die darüber hinausgehenden sozialen Proteste haben sich in der Folge nach und nach organisiert und strukturiert, wobei die aktuelle Phase der Repression diesem Strukturierungsprozess grossen Schaden zufügt.

Ab Ende Juni hat die Regierung begonnen, die Barrikaden niederzureissen und über die aufständischen Quartiere und Städte die Herrschaft zurückzugewinnen, indem sie sich auf die Polizei und immer mehr auch auf paramilitärische Gruppen in Zivil stützte, die gut organisiert und mit Fahrzeugen und Kriegswaffen ausgerüstet sind. Ein Grundelement dieser neuen Repression war der gezielte Gebrauch dieser Kriegswaffen, um die Opfer zu töten. Als diese Phase zu Ende ging, begann eine Phase der Jagd nach Oppositionellen, insbesondere nach Studenten- und BauernführerInnen. Die Bewegung wurde kriminalisiert, und es kam zu Hausdurchsuchungen und Entführungen, die allerdings bereits vorher angefangen hatten. Die Verabschiedung eines Gesetzes zur Kriminalisierung der Bewegung erlaubte es, Hunderte von Personen ins Gefängnis zu werfen und unter der Anklage des «Terrorismus» zu harten Strafen zu verurteilen, weil sie an Kundgebungen teilgenommen oder die StudentInnenbewegung materiell unterstütz hatten und wegen ähnlicher Straftaten. Anfang August kam es zu Säuberungen im öffentlichen Dienst, insbesondere in Spitälern, wo mehrere ÄrztInnen kurzerhand entlassen wurden, die sich der Anordnung widersetzt hatten, keine Opfer der Repression zu behandeln.

Wie konnte es soweit kommen?

Viele fragen sich, wie es soweit kommen konnte, wo doch das Ortega-Regime aus der sandinistischen Revolution der 1980er Jahre hervorgegangen ist, einer Revolution, die der jahrzehntelangen Somoza-Diktatur ein Ende setzte, viele Hoffnungen weckte und eine weltweite Solidaritätsbewegung hervorrief. Erinnern wir uns zunächst daran, dass die Sandinistische Nationale Befreiungsfront (FSLN) 1990 die Wahlen verloren hat und ihre Macht an eine Koalition der Oppositionskräfte abgeben musste. Im Jahr 2006 ist sie nach fünfzehn Jahren neoliberaler Politik bei Wahlen mit einer relativen Mehrheit wieder an die Macht gekommen. Die darauf folgenden Wahlen waren intransparent, und es fehlte ihnen an Legitimität. Daniel Ortega konnte ein drittes Mal ins Präsidentenamt gewählt werden, indem er sich über die Verfassung hinwegsetzte und in geschickter Weise jegliche glaubwürdige Opposition mundtot machte, insbesondere indem er eben diesen Oppositionskräften die Teilnahme an den Wahlen verwehrte.

Daniel Ortega hatte seine Macht dank einer Allianz mit der Konstitutionellen Liberalen Partei (Partido Liberal Constitucionalista, PLC), der wichtigsten rechten Partei, ab Ende der 1980er Jahre aufgebaut. Diese Allianz sah eine Teilung der Macht im wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen wie auch wahlrechtlichen Bereich zwischen der FSLN und der PLC vor. Eine Wahlrechtsreform ermöglichte der FSLN den Sieg im ersten Wahlgang auf der Basis eines relativen Mehrs. Ferner wurde dem früheren liberalen und notorisch korrupten Präsidenten Arnoldo Alemán Straffreiheit zugestanden. Danach verbündete sich Ortega mit der Oligarchie, indem er ihr soziale Stabilität, die Fortdauer ihrer wirtschaftlichen Dominanz sowie vielfältige Privilegien garantierte, insbesondere steuerpolitischer Art oder anhand der Möglichkeit, die natürlichen Ressourcen des Landes und die billigen Arbeitskräfte auszubeuten. Diese Oligarchie ist aus der traditionellen agrarischen und Fabrikantenoligarchie wie auch aus einer neuen «sandinistischen» Oligarchie entstanden, die sich seit den 1990er Jahren entwickelt hat. Die Regierung Ortega konnte schliesslich auch eine Allianz mit dem ausländischen Kapital schmieden, auch mit dem der Vereinigten Staaten.

Gleichzeitig konnte das Regime eine gewisse Vision der Entwicklung des Landes verwirklichen, indem ein Teil des Reichtums – insbesondere die Hilfe durch Venezuela – in Infrastrukturprojekte wie Strassen und Elektrifizierung investiert und eine Sozialpolitik finanziert wurde – etwa mit Wohngeldzuschüssen, mit dem Ausbau der Gesundheitsvorsorge usw. –, was zu einer Verbesserung des Lebensstandards eines grossen Teils der Bevölkerung beigetragen hat, insbesondere in der Unterschicht. Die Mittelschicht profitierte ferner vom allgemeinen Wirtschaftswachstum.

Schliesslich hat Nicaragua in den letzten zehn Jahren ein kräftiges Wirtschaftswachstum und soziale Stabilität erlebt. Beides fusste allerdings zu einem guten Teil auf schwachen Grundlagen: Die Kooperation mit Venezuela ist praktisch zum Erliegen gekommen; viele NicaraguanerInnen wanderten zeitweilig nach Costa Rica aus und überwiesen Geld nach Hause; Beschäftigung entstand zu einem guten Teil aufgrund der Schaffung einer Zollfreizone bei Managua; zudem wird an den natürlichen Ressourcen Raubbau betrieben. Beides beruht auch darauf, dass jegliche Opposition, die der Zentralmacht gefährlich werden könnte, im Keim erstickt und unterdrückt wird. Auch wenn das Regime, das in den 1980er Jahren aus der sandinistischen Revolution hervorgegangen ist, während der letzten zehn Jahre auf die Unterstützung eines bedeutenden Teils der Bevölkerung (30– 40%) zählen konnte, hat es aufgrund der Ereignisse der letzten Monate selbst in den Augen der meisten jener UnterstützerInnen jegliche demokratische Legitimität verloren.

Die Ereignisse der letzten Monate, die Niederschlagung der sozialen Aufstände und beginnenden Bürgerrevolution, machen deutlich, wie schnell das Regime ins Autoritäre und Diktatorische abgeglitten ist. Mit seiner Repressionspolitik und seiner Schreckensherrschaft sowie der Mobilisierung paramilitärischer Kräfte erinnert es an die schlimmsten rechtsextremen Diktaturen Lateinamerikas.

Durch das herrschende Klima des Schreckens im Land, durch die Festnahmen oder den Gang ins Exil oder in den Untergrund eines Grossteils ihrer AnführerInnen ist die soziale Bewegung erheblich geschwächt worden. Gleichzeitig ist Nicaragua im Begriff, in eine der schwersten Wirtschaftskrisen seiner Geschichte zu rutschen: Die Wirtschaftstätigkeit ist zurückgegangen, Verunsicherung macht sich breit und der Tourismus ist zusammengebrochen. Und das vor dem Hintergrund, dass eine Zusammenarbeit mit Venezuela, welche die Politik der Regierung finanziert hat, nicht mehr existiert.

Fortschrittliche Kräfte haben weltweit Solidaritätsaktionen mit dem nicaraguanischen Volk zu organisieren begonnen. Diese Unterstützung ist notwendig – und sehr dringend, um auf die nicaraguanische Regierung Druck auszuüben, damit sie die vielen Hundert politischen Gefangenen freilässt. Hundertzwanzig von ihnen sind Anfang September in einen Hungerstreik getreten.


Anmerkungen:

Dieser Bericht ist in der Zeitschrift «Archipel» des Europäischen BürgerInnenforums erschienen.

Bild von Jorge Mejía peralta, CC-Lizenz via flickr.


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