Schrankenlos böse

Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“ spaltete kurz nach seinem Erscheinen 2006 in französischer Sprache und ein Jahr später dann in Deutsch, die Kritik. Darin lässt er einen ehemaligen SS Offizier von seinen Kinder- Jugend- und Kriegserlebnissen berichten und tut das so schonungslos, dass es einem beim Lesen nicht nur einmal den Atem verschlägt. Fern jeder psychologischen Auseinandersetzung schimpften die einen, eine Zumutung, die Judenvernichtung erneut in Prosa zu gießen, tönte es aus einem anderen Eck. Ein Buch, das seinesgleichen sucht und eine Steilvorlage für die kommenden Jahrzehnte biete – so lautete im Gegenzug der Grundtenor der Befürworter. Wie auch immer man künstlerisch die Beurteilung ansetzen will – eines ist nicht wegzudiskutieren. In Littells Werk häufen sich die Leichenberge und Gräueltaten sosehr, dass Bühnenfassungen – gelinde ausgedrückt – echte Herausforderung darstellen.

Und doch gibt es sie mittlerweile. Armin Petras war der Erste, der 2011 eine Bearbeitung am Gorki-Theater in Berlin auf die Bühne brachte. Federico Bellini und Antonia Latella erarbeiteten für Wien eine eigene Fassung, wobei Latella zugleich auch die Regie übernahm. Es ist ihnen dabei das Kunststück gelungen, alle relevanten Stationen und Charaktere aus Littells Text herauszufiltern, ohne dass man das Gefühl hat, Essenzielles sei auf der Strecke geblieben. Und das ist eine hohe Kunst, bedenkt man, dass das Buch knapp 1400 Seiten hat. Im Schauspielhaus in Wien, wo die Inszenierung in dieser Saison aufgeführt wird, sind es zwei Mal einhalb Stunden plus Pause, die als Zeitfenster zur Verfügung stehen, wobei keine einzige Minute weggestrichen gehört. „Die Wohlgesinnten“ ist das erste richtig große Theaterereignis des Hauses in dieser Saison und legt für Kommendes die Latte enorm hoch. Wer erwartet, dass hier bestialisch gemordet wird und Theaterblut massenweise spritzen müsste, der irrt gewaltig. Latella kommt ganz ohne diese augenscheinlichen Zutaten aus und setzt den Schwerpunkt viel mehr auf die psychologische Erforschung der Hauptprotagonisten.

Schrankenlos böse

Auf der Bühne, die von einer Filmzuspielung auf eine Großbildleinwand dominiert wird, agieren vier Personen. Der unaufdringliche Film im Hintergrund dient jedoch nicht nur zur Behübschung, sondern trotz seiner Naturidylle als spannungsreicher Hinweis auf die wahre Motivation Max Aues, der sich als junger Jurist ganz tief in den Tötungsmorast der SS hineinziehen lässt. Zu sehen ist darauf ein Ausschnitt des Berliner Tiergartens, nahe der Löwenbrücke, der als Treffpunkt Homosexueller bekannt war. Und tatsächlich sind es junge, allein auftretende Männer, die während des gesamten Filmes nur mit ihrem Erscheinen auf der Leinwand immer wieder unterschwellig klar machen, was dem jungen Max Aue, Doktoraspirant, zur Last gelegt wurde. Er sei ein „175er“ – also ein Mann, dem laut § 175 des deutschen Strafgesetzbuches wegen sexueller Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts eine Anklage drohe. In der gleich zu Beginn determinierten Zwangslage, in die sich Max Aue durch seine Homophilie gebracht hat, überbringt ihm Steffen Höld in der Rolle des Thomas Hauser eine Botschaft, die nur zwischen den Zeilen zu lesen ist. Er habe nichts zu befürchten, würde er seine Dienste der Partei zur Verfügung stellen – ganz im Gegenteil, es stünde ihm als brillantem Denker eine glänzende Karriere bevor.

Nach diesem Intro bestreitet Thiemo Strutzenberger als Max Aue mit Steffen Höld das Geschehen auf der Bühne. Zwei Männer, die ungleicher nicht sein können und sich doch bis an das Lebensende von Thomas nie ganz aus den Augen verlieren. Was die beiden jungen Schauspieler dabei abliefern, kann als beispiellos grandios bezeichnet werden. Sie stehen sich in ihren spielerischen Talenten gegenseitig in nichts nach. Einer genialen Besetzung ist es zu verdanken, dass sie in ihren jeweiligen Rollen ihre Stärken voll ausspielen können. Ihre viel zu großen Anzüge, in welche sie erst im Laufe des Abends „hineinwachsen“, machen klar, dass sie ganz zu Beginn des Krieges in Rollen stecken, denen sie gar nicht gewachsen sind. Erst im zweiten Teil des Abends sitzen die Kleidungsstücke wie angegossen – bis dahin haben die beiden durch ihre Parteikarriere jedoch schon jeder Menge Erschießungskommandos in Osteuropa beigewohnt, ihre Moral verloren und sich den Umständen des Horrorregimes perfekt angepasst. Höld mimt dabei den mustergültigen, parteitreuen Deutschen, der keinen Augenblick des Zweifels kennt und die Kommunikationsstrukturen der Macht perfekt beherrscht. Im Gegensatz zu seinem Freund ist er aufgrund seines parteikonformen Verhaltens nicht erpressbar und begeht seine Taten nicht nur aus Überzeugung, sondern vor allem aus dem Willen, in hohe Chargen aufzusteigen. Für ihn ist das Leben ein Witz, über das er im Gegensatz zu seinem Freund Max beständig lachen kann. Auch dann noch, wenn die Umstände grauenhafter nicht sein können. „Krieg ist Krieg und Schnaps ist Schnaps“ – mit diesem Slogan setzt er wieder und wieder einen funktionierenden Verdrängungsmechanismus in Gang, der durch seinen steigenden Alkoholkonsum noch beschleunigt wird. Am Beginn des Stückes stößt er noch mit Champagner an, nach den Erlebnissen in Stalingrad trinkt er direkt aus der Flasche Schnaps. Worüber man nicht nachdenken kann, darüber muss man sich vollsaufen, scheint das Motto von Thomas Hauser zu sein. Obwohl er Max gegenüber als jener erscheint, der die Zusammenhänge in der Partei und des Krieges an sich besser durchschaut weiß er, dass ihm sein Freund in einigen Dingen überlegen ist. Dieser nennt ihn nicht nur einmal Pylades und betitelt sich selbst als Orest, ein Hinweis, dass Littell seine Figuren ganz nach dem antiken Vorbild der „Orestie“ ins Rennen schickte. Ihr Schicksal erfüllt sich aus derselben familiären Verfasstheit wie das ihrer antiken Vorbilder, allein die Umstände in der sie als Erwachsene ihr Leben meistern müssen, sind andere. Littell vermittelt durch diesen Kunstgriff, dass die Geschicke der Menschen seit Urzeiten von ihren kindlichen Prägungen bestimmt und diese wiederum einem immerwährenden Kanon menschlicher Konstellationsmöglichkeiten entnommen werden. Aus dieser Idee ist das Geschehen, das im Dritten Reich angesiedelt ist, in der Bedeutungsübersetzung eines, welches als historisch exemplarisch aufgefasst werden kann. Eine Uminterpretation auf zeitgenössische Verfasstheiten sollte damit auch in zukünftigen Generationen leicht möglich sein.

Der uneitle Maurizio Rippa, der als Countertenor barocke Arien ganz in Zwischenschnittmanier oder auch als Untermalung des Geschehens zum Besten gibt, ist als personifizierte Kultur zu interpretieren. Von den Nazis als speziell deutsche Errungenschaft verkauft, in deren Besitz sich vom Führer abwärts eine ganze Reihe karrieregeiler NS-Schergen rühmten, diente Kultur auch als Legitimation einer Herrenrasse, die sich den anderen überlegen fühlte. Mit Rippas Auftreten, mal als alter Mann in Hausschuhen, der sich nur schleppend vorwärts bewegt, mal als Unterhalter hinter dem Mikrofon oder als Lamentosänger, wenn es Tote zu beklagen gibt, wird auch jene Schnittmenge des menschlichen Daseins angeschnitten, in welcher sich sowohl Kultur und Kunst als auch bestialisches Verhalten scheinbar ungestraft miteinander verbinden. Littell überschrieb seine verschiedenen Kapitel mit Satzbezeichnungen aus barocken Suiten wie Allemande, Courante, Sarabande, Menuett, Air und Gigue, wobei er als Einstiegsbezeichnung Toccata eine Bezeichnung wählte, die in der Abfolge der barocken Konzerte nicht vorkommt, sondern der Begriff eines eigenständigen in sich selbst abgeschlossenen Stückes ist. Dass Rippa hauptsächlich französische Musik singt, ist als Hinweis auf die Multinationalität von Max Aue aufzufassen. Als Kind im Elsass sowohl deutsch als auch französisch geprägt, ist er zeitlebens mit einem kulturellen Mehrwert gegenüber seinem Freund ausgestattet, was dieser schmerzlich spürt. Dazu passt auch sein Hinweis auf einen seiner Lieblingsschriftsteller Stendhal. Dieser schrieb, dass der größte Trick Gottes darin bestünde, die Menschen glauben zu machen, dass es ihn nicht gäbe. Dieser Satz ist nicht irgendein x-beliebiger. Ihn in die dramatische Fassung mitaufzunehmen, kann auch als Programm für das unbeschreiblich grausame Tun von Max und Thomas, und nicht nur für diese beiden, während der NS-Herrschaft angesehen werden. Gott wird in diesem Satz zwar nicht geleugnet, sein Erkennen bei den Menschen sowie die zwangsläufige ethische Handlung daraus aber sehr wohl. Wenn es Gott gibt, dann zeigt er sich nicht, und wenn er sich nicht zeigt, sind letztendlich nur wir selbst unsere eigene moralisch-ethische Instanz. Und nach dieser Logik handeln die beiden auch.

Die Bühne befindet sich in einem ständigen Requisitenwandel, wobei es hauptsächlich Klavierbänke sind, die meist von Barbara Horvath kräfteraubend in immer neue Positionen verschoben und gehoben werden. Als Adjutant von Aue verkörpert sie in schneeweißen, ebenfalls viel zu großen Hosen und einem dicken Mantel jenen Soldatentypus, der das Rückgrat der Armee darstellte. Ihr unbedingter, auf Kommando gebrüllter Kadavergehorsam, den sie nie hinterfragt und das minutenlange, rhythmische Gestampfe ihrer schweren Stiefel, das die endlosen Vormärsche der deutschen Einheiten markierte, steht für Abertausende, die den Krieg nicht gewollt, ihn aber an vorderster Front führen mussten. Die Klavierbänke, Reminiszenzen an kulturgeschwängerte deutsche Wohnzimmer, dienen unterschiedlichen Szenarien. Zum Beispiel als Sitzbehelfe auf dem sich im Kreis drehenden Theaterboden. Ein beredtes Bild, in dem die Unsicherheit der Zeit und der sich ständig ändernden Situation ihren Wiederhall findet. Wenn rundherum alles wankt, ist es nur mehr die eigene kulturelle Identität, die zumindest ein klein wenig Halt bietet, und sei dies auch nur in Form eines Klavierhockers. Ein anderes Mal stellt Horvath die Klavierbänke alle hochkant auf und evoziert damit endlose Reihen von Grabsteinen. Nicht nur für das Massensterben in Stalingrad oder auf einem Feld in der Ukraine, bei der Aue einer jüdischen Massenerschießung beiwohnte und dabei selbst Hand anlegte, stimmt diese Metapher.

Barbara Horvath schlüpft als Una, die Zwillingsschwester Aues, zu der er in jugendlichen Jahren ein inzestuöses Verhältnis hatte, aus der Rolle des gehorsamen Soldaten in jene einer empfindsamen jungen Frau. In der pommerschen Abgeschiedenheit, in der sie lebt, hat sie keine Ahnung von den Kriegsgräueln und kann den geistigen Zustand und die Schuld, die ihr Bruder auf sich geladen hat, überhaupt nicht einschätzen. Im weißen Hosenanzug ist sie eine Lichtgestalt auf der Bühne, die durch ihre Ehe mit einem ständig kränkelnden Mann die emotionale Umklammerung ihres Bruders hinter sich lassen konnte. Die Wandlungsfähigkeit der Schauspielerin ist an diesem Abend auf eine harte Probe gestellt, umso bewundernswerter fallen ihre raschen, gelungenen Rollenwechsel aus. In den Szenen, in welchen sich Maximilian seiner eigenen Familie zuwendet, allen voran seiner Schwester, verblasst der projizierte Film des Berliner Parks. Una und seine Familie sind für ihn keine Bedrohung. Einzig seine Wünsche und Sehnsüchte, mit seiner Schwester immer vereint zu sein, dienen ihm im privaten Umfeld als intrinsischer Antrieb. Hier ist nicht die Erpressung, die ihn zu seinem Tun innerhalb des Familienverbandes anleitet, sondern vielmehr der Wunsch, eine liebende Mutter sein Eigen nennen zu können. Ein Wunsch, der sich nicht erfüllte und der den Grundstein zu späteren fatalen Entwicklungen im Leben Maximilian Aues legte. Wie sehr das Draußen aber dennoch auf das Drinnen wirkt, sich nicht einfach wegschieben lässt, wird in der ganz speziellen Interpretation der Figur Aues durch Strutzenberger klar, der den Kriegsgestählten sichtbar verrückt werden lässt. Kurz davor durfte er noch seine intellektuelle Kraft bei einem rhetorischen Duell mit einem Bolschewiken zeigen – eine jener Szenen, für die Strutzenberger eine eigene Auszeichnung bekommen müsste, so intensiv, so rasch und so brillant wird sie von ihm direkt am Bühnenrand sitzend, vorgetragen. Wie bei einem Fußballmatch kommentiert sein Freund Thomas das Geschehen und zählt jede überzeugende Argumentation gegen den Kommunismus wie ein gelungenes Fußballtor.

Doch je länger der Krieg vorrückt, umso mehr wird deutlich, dass Maximilian Aue ihn psychisch nicht unbeschadet übersteht. Auf die erste schier unerklärbare Tat – die Ermordung eines alten Juden – der zuvor an einem Klavier Bach spielte – folgt auch noch jene der eigenen Mutter. Zwar geschieht das nicht auf offener Bühne und auch in Littells Buch selbst sind es nur Andeutungen, die zu diesem Schluss führen. Dennoch ist es die Übernahme des Bösen in den privaten Bereich, bei dem klar wird, dass es keinerlei moralische Schranken für den SS-Mann mehr gibt. Das schrankenlose Böse macht auch vor der eigenen Familie nicht Halt. Und zu guter Letzt schneidet Max auch seinem besten Freund Thomas noch die Kehle auf, anders als in der Buchvorlage, wo er ihn mit einer Stange erschlägt. Es sei „eine logische Konsequenz“ – wie er dieses, sein eigenes Tun emotionslos kommentiert. Thomas steht ihm mit all dem, was er über ihn weiß, im Weg, um nach dem Krieg in Frankreich ein neues Leben beginnen zu können und trägt in seiner Tasche noch dazu neue Papiere, die sich Max aneignet. Das Leben danach, mit neuer Identität, wird kein glückliches. Dass er dabei mit seiner Frau, die er nicht liebt, abermals ein Zwillingspaar zeugt, kann als leiser Hinweis des beständigen Lebenskreislaufes aufgefasst werden, welcher über Generationen hinweg immer wieder auftritt.

Schreiduelle, mit Musik zur Unkenntlichkeit zerfetzt, Affenhalbmasken, die dem Geschehen noch ein weiteres Stück Surrealität verleihen oder der Heavy-Metal-Song „Mutter“ von Rammstein, dessen Text kurz zuvor Strutzenberger beinahe bittend seiner Schwester vorträgt, sind nichts für schwache Nerven. Aber gerade diese intensiven Theatermomente gestatten es, das Publikum in emotionale Ausnahmezustände zu versetzen. In Situationen, in welchen man sich wünscht, sie mögen doch bald vorbei gehen und in denen man zugleich auch weiß, dass die Situationen des Schreckens im Zweiten Weltkrieg für Millionen von Menschen im realen Leben und nicht auf der Bühne stattfanden und erst mit ihrem Tod endeten. Maurizio Rippa wird am Ende des Stückes nicht mehr singen. Der übergroße Scheinwerfer, den er immer wieder während der Vorstellung ins Publikum richtete und diesem damit den Platz von angeklagten Mitwissern zuwies, strahlt nun ihn selbst von hinten an. Sein Gebrüll hat nichts Anmutiges, nichts Kultiviertes mehr. Der Wahnsinn ist der Musik gewichen. Kultur funktioniert nicht länger als ein lebensverlängerndes und Schuld verdrängendes Hilfsmittel.

Das ist nicht nur kluges Theater, voll von Metaphern, die man entziffern kann, aber nicht zwangsläufig muss. Das ist packendes Theater, das ohne belehrenden Zeigefinger auskommt und dennoch auf so vielen Bedeutungsebenen aufgebaut ist, dass diese gar nicht alle auf einmal erfasst werden können. Ein herausragender Theaterabend mit einer grandiosen Regie und bestmöglicher Besetzung. Dass sich auch daran, wie schon am Buch Littells selbst, die Geister scheiden werden, liegt hauptsächlich an der intellektuellen Herausforderung, die gutes, zeitgenössisches Theater wie dieses an sein Publikum zwangsläufig stellt.

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