Schocktherapie! Warum jeder einmal ein Schwein schlachten sollte.

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Es blickt mich an und mich durchzuckt ein schlechtes Gewissen. „Ich weiß mehr als du. Und du wirst gleich sterben.“ Das Schwein, dass mir seine Nase durch den Zaun entgegenstreckt, ist heute dran. Es ist ein glückliches Schwein, sofern ich das überhaupt beurteilen kann. Es streunt durch sein Freigehege an der italienischen Mittelmeerküste im Cilanto-Nationalpark, zwischen anderen Tieren, frisst Heu und Gemüse, schaut aufs Meer und grunzt vergnügt – noch.

Am Abend zuvor erwähnte unser Gastgeber ganz beiläufig, dass er sein „Maialino“, sein Schweinchen schlachten werde. Spontan erklärte ich ihm, dass ich dabei zusehen will. Etwas befremdet schien er zunächst von der Idee, dass ein Tourist sich im Urlaub mit Blut und Eingeweiden auseinandersetzen möchte. Doch dann willigte er ein und erlaubte mir sogar, die Kamera mitzunehmen. Ich hatte mir das schon lange vorgenommen – jetzt bot sich die Möglichkeit, meine lang ersehnte „Schocktherapie“ in Angriff zu nehmen.

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Ich esse gerne Fleisch, doch immer noch – ab und an – sehr unreflektiert. Noch immer habe ich diese unnötigen Momente, in denen ich aus schwachsinnigem Geiz ins Kühlregal des Discounters greife und für 2,50 Euro 500 Gramm Schweinenackensteaks kaufe. (After-Work-Griller, ihr kennt das!) Jedesmal ärgere ich mich über Geschmack und Konsistenz und nehme mir vor, das nächste mal vorbei zu gehen. Das größte Problem: bei meinen Impulskäufen steht meist der Preis/Geiz im Mittelpunkt. Danach ärgere ich mich meistens lediglich über den Geschmack. Dabei sollten mir in diesem Moment ganz andere Gedanken in den Kopf schießen. Doch woher das Fleisch stammt, wie es zu diesem absurd günstigen Preis kommt und welche Tier-Geschichte dahinter steckt, blende ich in diesen Momenten aus – mal bewusst, mal unbewusst.

Das Problem an der Sache: Fleisch hat einen unglaublich hohen Abstraktionsgrad. Ein gebratenes Steak mit Beilagen weckt quasi keinerlei Erinnerung mehr an das lebende Ursprungprodukt. Nur so ist es wohl möglich, dass so viele Mensche so gerne Fleisch in großen Massen verspeisen. Dass vor ihnen auf dem Teller gerade die pure Leiche liegt, kommt keinem in den Kopf – auch mir nicht. Auch nicht der Schuss, der das Tier tötet. Fleisch ist Nahrungsmittel und unsere Kultur hat dafür gesorgt, dass all die schwer verdaulichen Bilder der Fleischproduktion möglichst selten an die Oberfläche treten. Ich habe mich dazu entschieden, mir all das einmal ganz bewusst anzusehen.

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Als Stefano das Gatter betritt, läuft ihm das Schweinchen entgegen. Er bückt sich, als wolle er es streicheln. Dann dringt das Projektil in den Kopf ein. Ich zwinge mich hinzusehen. Kurz zuckt das Tier im Todeskampf, rennt noch einige Meter, gibt seine letzten ächzenden Laute von sich, dann fällt die Sau in sich zusammen. Blut läuft aus ihrem Maul. Diese Sekunden sind quälend lange. Immer wieder schaue ich ins Gesicht des Mannes mit dem Bolzenschussgerät. Er blickt seelenenruhig auf das Tier. Ich will ihn bitten, es schneller zu beenden, doch mir fehlen in dem Moment die Worte. An den Füßen schleift er das tote Schwein unter einen alten Olivenbaum. Dort hängen wir es an einem knorrigen Ast auf, an zwei Beinen, mit dem Kopf nach unten.

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In den Sekunden vor dem Tod der Sau war ich regelrecht gefühlsduselig geworden. Mit der Gewissheit, was kommen würde, weckte dieses tierische Schicksal eine schier zwischenmenschliche Verbundenheit in mir. Ein Lebewesen zu töten, das eigene Entscheidungen trifft, mir aus eigenem inneren Antrieb die Schnauze entgegenreckt und dabei vergnüglich grunzt, noch dazu größer ist als ein kleines Kind – es fühlte sich an wie ein Mord. Die Ferkel waren derweil eingesperrt im Stall nebenan, mit einem Tuch hat man ihnen die Sicht auf die sterbende Muttersau versperrt. Ein echtes Familiendrama. Und ich sah tatenlos zu.

Doch schnell setzt die rationale Gehirnhälfte wieder ein und ich mache mir bewusst, wie vielen tausenden Tieren jeden Tag das selbe Schicksal widerfährt und wie viele von ihnen in ihrem kurzen Leben nicht einmal frisches Gras spürten. Als die leblose Sau am knorrigen Ast baumelt, ist sie für mich schon zum Nahrungsmittel mutiert. Unfassbar, wie schnell sich der Blick auf ein und das selbe Objekt ändern kann. Ich bin fast etwas schockiert, wie wenig es mich berührt, als Stefano den ersten Schnitt setzt, und einen Fetzen Haut zur Seite zieht. Vielleicht, weil ich weiß, dass es ein glückliches Schwein war. Ich habe gesehen, wo und wie es die letzten Jahre verbracht hat. Es sah seinen Tod nicht kommen – seine Leidenszeit war kurz.

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Stefano zieht die borstige Haut ab, darunter verbigt sich die weiß-glänzende Fettschicht. Wenig später erreicht er die inneren Organe – es ist wie ein Crashkurs in Anatomie. Unglaublich symmetrisch und gerordnet liegen Darm & Co im Inneren des Tiers, der Anblick lässt mich erschaudern. Nicht, weil ich mich vor Innereien ekeln würde, sondern weil das Schwein in dieser Ansicht der menschlichen Innen-Ansicht, wie ich sie von Bildern kenne, so frappierend ähnelt. Es ist das zweite mal an diesem Tag, dass ich mich mit dem Tier näher verbunden fühle, als ich es für möglich hielt.

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Ich werde wieder Fleisch essen, weil ich den Geschmack von hochwertigem Fleisch liebe. Auch deshalb glaube ich, dass diese kopflosen Billig-Fleischkäufe nun definitiv der Vergangenheit angehören. Diese Gehirnwäsche hat Wirkung gezeigt, dass kann ich mit Sicherheit sagen – jetzt wo ich etwa drei Tage später diesen Text schreibe. Diese Bilder werden nie mehr weichen und mich jedesmal aufs Neue an diese Banalität erinnern: Hinter jedem Stück Fleisch steckt ein Lebewesen. Mit einer Lebensgeschichte oder mit einer Leidensgeschichte. Der Preis auf der Verpackung ist ein sehr aussagekräftiger Indikator dafür. 2,50 Euro für eine Kiste Schweinesteaks funktionieren nur, wenn dieses Tier eingepfercht war, zwischen dutzenden anderen Schweinen, deren einzige Aufgabe es war, möglichst schnell fett zu werden. Will ich, dass das Tier hinter meinem Steak zu diesem Preis für mich gestorben ist? Viele blenden diese Frage aus. Ich kann es nun nicht mehr.

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Konsequenterweise verspeisten wir dann auch noch am selben Tag ein paar Rippchen der Sau, die zwei Wochen vorher am selben Ort geschlachtet wurde. Das Fleisch hätte im Handel mindestens das doppelte des Discounter-Deals gekostet. So viel Platz und Lebensqualität für ein einziges Tier hat seinen Preis, für den Bauern wie für den Verbraucher. Das Fleisch schmeckte vorzüglich. „Du bist was du isst“ – für mich ist das keine Floskel, sondern ein Satz mit sehr viel Wahrheit. Man wird Menschen niemals zwingen können, aus Mitleid mit Tieren mehr Geld auszugeben. Doch diese eine Frage trifft jeden: Will ich tatsächlich aus diesem Stück Fleisch bestehen, das da vor mir liegt? Ein Tier sterben zu sehen, seine Umwandlung von Lebewsesen in Nahrungsmittel zu verfolgen, hilft dabei, sich diese Frage viel öfter zu stellen. 


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