“Junge Welt”, 25.05.2012
Warum Deutschlands Politik und Medien Aserbaidschan in der Menschenrechtsfrage unter Druck setzen
In der Ferne entdeckt die deutsche Journaille gern die Menschenrechte für sich. Dieselben Journalisten, die aus Karrieregründen verkniffen schweigen, wenn Wasserwerfer in Stuttgart Demonstranten die Augen aus dem Kopf schießen, erregen sich gerne über die autoritären Zustände insbesondere in den Ländern, die ökonomisch noch nicht unter der Kuratel des verstärkt gen Osten drängenden Deutschlands stehen. Die im Vorfeld der Fußballeuropameisterschaft losgetretene Medienkampagne und die Boykottdrohungen gegen die Ukraine seitens der Kanzlerin sind darauf zurückzuführen, daß die dort herrschende Oligarchie nicht bereit ist, sich in die europäische Einflußsphäre einzuordnen. Nun ist Aserbaidschan an der Reihe, das anläßlich des Eurovision Song Contest an den Menschenrechtspranger gestellt wird.
Bereits Anfang Mai beklagte die aserbaidschanische Botschaft in Berlin eine »systematische Kampagne« gegen das rohstoffreiche südkaukasische Land, die darauf hindeute, »daß einige Kreise in Deutschland vorhaben, dem Image Aserbaidschans Schaden zuzufügen«. Das Auswärtige Amt wies diese Vorwürfe umgehend zurück, während zugleich die deutsche Presse mit Berichten über Menschenrechtsverstöße in dem autoritär geführten Land überquillt. Der »Menschenrechtsbeauftragte« der Bundesregierung, Markus Löning (FDP), hat gegenüber der Süddeutschen Zeitung erklärt, es sei schwer, »fröhlich und unbeschwert zu singen, wenn ein paar Kilometer weiter Menschen im Gefängnis sitzen, weil sie zum Beispiel über Facebook zu einer Demonstration aufgerufen haben.«
Die Zustände in Aserbaidschan, das von dem Klan des Machthabers Ilcham Alijew wie ein neofeudales Fürstentum ausgepreßt wird, sind unter einer dünnen pseudodemokratischen Hülle tatsächlich als diktatorisch zu bezeichnen. Die Opposition wird an ihrer freien Entfaltung gehindert, es gibt politische Gefangene, und die formellen Wahlen können getrost als Farce abgetan werden. Bei Aserbaidschan handelt es sich um einen klassischen postsowjetischen Rentenstaat, bei dem die aus der Nomenklatura hervorgegangene, auf klanartige familiäre Bande beruhende Oligarchie die Einnahmen aus den Rohstoffexporten monopolisiert und zwecks Herrschaftssicherung geschickt verteilt. Dabei sind die Klans rund um Alijew durchaus bereit, einen Teil der Rohstoffrente auch unters Volk zu bringen, um mit materiellen Gratifikationen die Gefügigkeit breiter Bevölkerungsschichten zu erkaufen.
Dennoch stehen den Menschen in Aserbaidschan weitaus mehr Freiräume zur Verfügung als etwa in Kasachstan, dessen Autokrat Nursultan Nasarbajew Ende 2011 die Stadt Schanaosen vom Militär zusammenschießen ließ, um einen Aufstand streikender Arbeiter niederzuschlagen (siehe jW vom 19.12.2011). Nur wenige Monate nach diesem Massaker, dem laut Gewerkschaftsberichten Dutzende Menschen zum Opfer vielen, empfing Bundeskanzlerin Angela Merkel Nasarbajew in Berlin, um mit diesem ein Abkommen über die Lieferung von Rohstoffen – unter anderen seltener Erden – zu unterzeichnen. Vom Menschenrechtsbeauftragen Löning, der diesen Deal gegenüber der Stuttgarter Zeitung sogar ausdrücklich verteidigte, sind hierzu keine kritischen Kommentare überliefert.
Den Abschluß eines ähnlich wichtigen Rohstoffdeals verweigert aber gerade Aserbaidschan. Es geht hierbei um etwaige Erdgaslieferungen für eine abgespeckte Variante der europäischen Nabucco-Pipeline, die kaukasisches Erdgas an Rußland vorbei bis in die EU befördern sollte. Das inzwischen in »Nabucco-West« umbenannte Pipelineprojekt soll mit zehn Milliarden Kubikmetern nur noch ein Drittel der ursprünglich geplanten jährlichen Förderkapazität erreichen. Seit Mitte Mai deutet sich aber an, daß Aserbaidschan in Kooperation mit dem türkischen Energieunternehmen Botas das Pipelineprojekt Tanap favorisiert, um so kaukasisches und zentralasiatisches Erdgas nach Europa in Eigenregie zu befördern. Die Europäer stünden dann mit ihrer Nabucco-West-Pipeline, an der auch der deutsche Energiekonzern RWE beteiligt ist, ohne jegliche verbindlichen Lieferzusagen vor dem endgültigen Aus. Es dürften solche geschäftlichen Rückschläge sein, die im Westen die Menschenrechtsliebe entflammen lassen.