WEIMAR. (fgw) Der Philosoph und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung Michael Schmidt-Salomon hat sich auf Bitte der “Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen” unter der Überschrift “Carpe diem!” zu Fragen der Religion und Religiosität im Alter zu Wort gemeldet:
Michael Schmidt-Salomon
“Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod, aber für alle Fälle nehme ich immer Unterwäsche zum Wechseln mit.” Mit diesen Worten karikierte Woody Allen die moderne Haltung zum „ewigen Leben”: Einerseits wissen wir, dass ein Weiterleben nach dem Tode mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist. Andererseits wollen wir diese Tatsache doch nicht so ganz wahrhaben, begehen Realitätsflucht und suchen Halt in Vorstellungen, die längst haltlos geworden sind.
Wenn es einen „Stein der Weisen” gibt, dann ist es der Grabstein: das Wissen um unsere eigene Vergänglichkeit. Aus der Erkenntnis, dass wir alle endlich sind, haben die Anhänger des griechischen Philosophen Epikur schon vor zwei Jahrtausenden das schöne Motto „Carpe diem!” abgeleitet: Pflücke (oder nutze) den Tag! Wenn es für unser irdisches Gastspiel weder eine ewige Verlängerung im Himmel noch Wiederholungspartien in Form von Wiedergeburten gibt, dann sollten wir die kurze Zeit, die wir auf diesem Staubkorn im Weltall verbringen, so sinnvoll wie möglich nutzen. Wer diese einmalige Gelegenheit auslässt, hat alles verpasst, was es im Leben überhaupt zu verpassen gibt. Im Unterschied zu fundamentalistischen Gläubigen verdrängen religionsfreie Menschen nicht, dass sie sterblich sind – und gerade deshalb ist für sie das Leben so kostbar. Das erklärt auch, warum sich religionsfreie Menschen (von Sokrates und Epikur über Paine und Jefferson bis hin zu Einstein, Russell, Fromm) so sehr für die Rechte und die Würde des Individuums eingesetzt haben. Fakt ist: Die Werte, die die moderne offene Gesellschaft auszeichnen (Demokratie, Menschenrechte etc.), entstammen nicht den Religionen, sondern mussten in einem harten Emanzipationskampf gegen die Machtansprüche dieser Religionen durchgesetzt werden.
Religionsfreie Humanisten wissen: Jeder Einzelne muss seine eigenen kleinen Antworten auf die großen Fragen des Lebens geben, da der „Sinn des Lebens” nicht einfach gefunden werden kann, sondern vielmehr erfunden werden muss! Wir stellen einen Sinn her, der so von vornherein gar nicht existiert. Hat man dabei nicht nur die eigenen, sondern auch die Interessen anderer im Blick, wird man feststellen, dass man nicht umsonst lebt und auch nicht umsonst gelebt haben wird: Unsere Existenz wird von Bedeutung gewesen sein – nicht für „Gott”, das Universum und „den ganzen Rest”, wohl aber für einige unserer Artgenossen, die – wie wir alle – vor der großen Herausforderung stehen, eine kleine Insel des Sinns zu erschaffen in diesem weitgehend sinnleeren Universum…
Michael Schmidt-Salomon
[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]