Und wie können Sie das ändern?
Das erste, was ich von Herrn M. hörte, war eine Entschuldigung. Er kam in meine Praxis zu einem Vorgespräch: “Entschuldigen Sie bitte, ich weiß, ich bin fünf Minuten zu früh.”
Ich fand das seltsam, kommentierte es aber nicht, weil ich neugierig war, welche Geschichte sich wohl dahinter verbergen würde. Herr M. kam wegen der Folgen eines Burnouts. Er hatte jahrelang Überstunden abgeleistet, konnte schlecht Nein sagen und wurde deshalb weidlich ausgenutzt.
Privat half er immer wieder bei der Renovierung des Hauses der Schwiegereltern und war auch noch als Fußballtrainer für eine Jugendmannschaft aktiv. Das war ihm zwar zu viel, aber er wollte die Jungen nicht enttäuschen.
Der Zusammenbruch war schmerzhaft für ihn und beschämend – aber auch erleichternd. Denn sein Hausarzt “befahl” ihm, sich endlich um sich selbst zu kümmern und mich aufzusuchen.
Im Gespräch fragte ich ihn nach einer Weile, warum er so Angst habe, andere zu enttäuschen. Denn das schien mir der gemeinsame Nenner seines ganzen anstrengenden Verhaltens zu sein. Zuerst kamen etwas lauwarme Erklärungen, dass er eben gern anderen helfe und Solidarität ein hoher Wert für ihn sei.
“Wen haben Sie denn schon mal sehr enttäuscht?, fragte ich ihn dann.
Er wurde sofort bleich, dann rot, und stammelte dann: “Meine Mutter. Meine Mutter habe ich sehr enttäuscht.” Dann erzählte er, dass er mit sieben Jahren mal eine Fünf in Rechnen nach Hause brachte. Seine Mutter wurde sehr zornig, fing an zu weinen und stieß dann hervor: “Weil Du geboren wurdest, konnte ich nicht weiter studieren. Wenn Du nicht gekommen wärst, wäre ich heute Ärztin!”
Herr M. wusste bis dato nicht, dass dieser eine Satz sein ganzes Leben beeinflusst hatte. Denn daraus wurde für ihn der unbewusste Glaubenssatz: “Ich bin eine Belastung für andere – und muss mir meine Existenzberechtigung erst verdienen.”
Und das versuchte er, indem er nichts für sich forderte, sondern immer nur schaute, wie er anderen helfen konnte bzw. nie mehr jemanden enttäuschte.
Was steht in Ihrem Lebensdrehbuch?
Die Transaktionsanalyse hat den Begriff des “Skripts” geprägt. Das ist ein Drehbuch, ein Lebensplan oder ein unbewusstes Programm, nach dem ein Mensch lebt. Die in den frühen Jahren gemachten Beziehungserfahrungen in Form von Erlebnissen und Aussagen bestimmen dabei maßgeblich das Selbstwertgefühl des Kindes und seine Strategien.
Als Kind ist man völlig abhängig von den Eltern. Sie bestimmen in großem Maß die Möglichkeiten der Person, sich zu entfalten und Konflikte zu bewältigen. Und zwar durch direkte und indirekte Botschaften, durch Verbote und vor allem durch die mit ihnen gemachten Erfahrungen.
Als Siebenjähriger konnte Herr M. zu seiner Mutter nicht sagen: “Du spinnst doch wohl. Was kann ich dafür, dass Du schwanger geworden bist?” Als Kind übernimmt man solche Botschaften und versucht, damit irgendwie fertig zu werden.
Und diese Strategien prägen sich ein, einfach weil sie sich bewährt haben.
Herr M. erlebte, wenn er keinen Ärger machte, pflegeleicht wurde, sich hilfsbereit und höflich zeigte, dass seine Mutter und andere Menschen darauf positiv reagierten. Zugleich lernte er früh, Anzeichen von Ärger, Eigensinn oder eigene Bedürfnisse zu unterdrücken.
Als Erwachsener sind uns diese frühen Überlebensstrategien in Fleisch und Blut übergegangen. Wir müssen nicht mehr daran denken oder uns erinnern. Unser Autopilot steuert unbewusst unser Verhalten in den alten Bahnen, wenn eine für uns kritische Situation auftaucht.
Jeder von uns hat solche empfindlichen Punkte und entsprechende Verhaltensstrategien aus Kinderzeiten. Zu den prägendsten Ereignissen gehören zum Beispiel:
- Frühe Trennungen
Durch längere Klinikaufenthalte, Fremdbetreuung, Kinderheim-Aufenthalte, Trennung der Eltern. Daraus resultieren oft starke Verlassenheitsängste, die in den erwachsenen Beziehungen wieder ausgelöst werden können. - Krankheiten eines Elternteils
Egal ob Drogensucht, Alkoholismus, Depression, Krebs. Das Kind lernt früh, Gedanken und Gesichter zu lesen, um auf entsprechende Ausbrüche oder Verschlechterungen frühzeitig vorbereitet zu sein. - Missbrauch und Prügel
Sexueller oder emotionaler Missbrauch hat immer schlimme Folgen, vor allem weil solche Traumata auch das Gehirn verändern. Bekommt ein Kind Schläge von einem Elternteil, lernt es Lektionen über Macht in Beziehungen und wie man am besten damit umgeht. Unterordnen und Angst aushalten oder dafür sorgen, dass andere einen fürchten. - Abwertungen, Beschämungen, ständige Kritik
Ein geringes Selbstbewusstsein oder das ständige Gefühl, noch etwas beweisen zu müssen, ist hier oft die Folge. - Schwere Krankheit oder Behinderung des Bruders/der Schwester.
Das gesunde Kind steht fast immer im Schatten, einfach weil die ganze Aufmerksamkeit der Eltern verständlicherweise dem Sorgenkind gilt. Oft entwickelt es auch Schuldgefühle, dass es gesund ist und sorgt im erwachsenen Leben unbewusst dafür, dass es ihm nicht zu gut geht, als müsste es etwas ausgleichen oder wiedergutmachen. - Tod eines Elternteils oder Verwandten
Stirbt jemand und redet man nicht immer wieder mit dem Kind und erklärt ihm, dass das nichts mit ihm zu tun hat, suchen Kinder immer nach einem Grund. Und mit ihrem magischen Denken finden Sie den Grund letztlich bei sich.
Aber natürlich gibt es unzählige Ereignisse, die einen in Kindheit und Jugend beeinflussen – und auch nicht nur negativ. Dazu zählen der Platz in der Geschwisterreihe, Erfahrungen in der Schule, das emotionale Klima in der Familie, die Beziehung und Kommunikation der Eltern untereinander usw.
Warum Kindheitserfahrungen bewusst machen?
Viele Menschen glauben ja, dass die Kindheit keinen Einfluss auf ihr heutiges erwachsenes Leben mehr habe. “Wie soll denn etwas, was dreißig oder vierzig Jahre her ist, heute noch auf mich wirken? ist eine häufige Überzeugung.
Menschen tendieren dazu, unbewusste Kindheitserfahrungen im Erwachsenenleben zu reinszenieren. Ob dahinter Freuds Wiederholungszwang, das eigene Karma oder einfach die Art, bestimmte Ereignisse zu interpretieren steckt, will ich hier nicht vertiefen.
Hier meine 4 Schritte zur Klärung:
1. Welches Verhalten finden Sie seltsam, unangemessen, überzogen oder im aktuellen Kontext wenig sinnvoll?
- Anna hatte mit ihrem Kontrollzwang schon drei Beziehungen in den Sand gesetzt. Verspätete sich ein Partner mal um 5 Minuten war sie bereits in Panik. Das rationale Wissen, dass das immer mal passieren kann, half ihr nicht. “Ich fühle mich wie fremdgesteuert”, kommentierte sie ihr Verhalten.
2. Identifizieren Sie das dazugehörige Erlebnis als Kind.
Das geschieht weniger durch Nachdenken, sondern durch achtsames Anzapfen des Unbewussten. Schließen Sie die Augen, verbinden Sie sich mit den unangenehmen Gefühlen, die das Verhalten in Ihnen auslöst und achten Sie dann darauf, was Ihnen aus Ihrer Vergangenheit dazu einfällt.
- Als ich das mit Anna machte, kam erst gar nichts. Dann tauchte das Fenster ihres Kinderzimmers auf. Dort war sie als Fünfjährige oft allein gestanden und hatte auf die Mutter, die im Schichtdienst arbeitete, gewartet. Mehrmals musste diese Überstunden machen, konnte nicht Bescheid sagen und Anna fürchtete, dass sie nie mehr zurückkehren würde.
3. Finden Sie heraus, was das Kind damals geglaubt hat.
Wir müssen dauernd Ereignisse interpretieren. Mit unseren Wissen über die äußere Welt und die Gesetze der Wahrscheinlichkeit klappt das meistens sehr gut. Kindern mangelt es an beidem. Deshalb kommen sie auf Erklärungen, die für einen Erwachsenen oft absurd sind, für das Kind jedoch völlig logisch.
- Die kleine Anna hatte aus dem endlosen Warten den Schluss gezogen, dass die Mutter sie nicht liebte. Da halfen auch die mütterlichen Erklärungen nicht weiter. Sie “lernte”, dass Beziehung und Abhängigkeit von anderen eine schmerzliche Sache ist und festigte ihre Überzeugung, dass niemand auf der Welt sie mag und sie ganz allein sei. Durch ihre Kontrollbemühungen führte sie das in ihren Liebesbeziehungen nach einer Weile auch herbei.
4. Lösen Sie sich und Ihre Gefühle von der Vergangenheit.
Dieser Schritt ist der schwierigste und es gibt kein Patentrezept dafür.
Entscheidend ist, dass dieses Trennen von der Vergangenheit nur über die Gefühle passiert. Rational wissen Sie ja, dass Sie nicht mehr sieben Jahre alt sind. Emotional nicht.
Es gibt mehrere Möglichkeiten. Ich arbeite gern mit Sätzen, die positiv formuliert sind und das Gegenteil beinhalten, was der Klient gegenwärtig glauben kann. Der entsprechende Satz soll laut ausgesprochen werden und die inneren Reaktionen achtsam beobachten. Also zum Beispiel:
- bei Verlassenheitsangst: “Ich werde nicht sterben.”
- beim Nicht-Nein-Sagen-Können: “Es müssen mich nicht alle mögen.”
- bei Selbstsabotage: “Es darf mir besser gehen als Dir/Euch.”
Eine andere Möglichkeit besteht darin, direkt mit dem “inneren Kind” zu sprechen. In einer Familienaufstellung kann man solche Konflikte bearbeiten und lösen.