„Normalerweise bedeutet es ja nichts Gutes, wenn ein Direktionsmitglied vor der Vorstellung das Wort ergreift. Das ist heute anders. Sie haben vielleicht unsere neue Leuchtschrift gesehen: Hier geschehen keine Wunder. Heute geschieht aber doch eines. Elisabeth Schwarz war nämlich am Montag bereits krank. Die gute Nachricht: Sie hat trotzdem gespielt. Heute allerdings kann sie beim besten Willen nicht spielen. Dafür wird Ulrike Willenbacher heute die Rolle übernehmen. Seit gestern lernt sie fleißig Text. Zur Sicherheit tritt sie noch mit dem Textheft in der Hand auf. Wir wünschen Ihnen einen schönen Abend.“
Dieses virtuos irreführende Feuerwerk aus guten und schlechten Nachrichten und solchen, die in Sekundenschnelle ihren Charakter ändern, verdankte man am vergangenen Freitag Holger von Berg, dem Geschäftsführenden Direktor des Bayerischen Staatsschauspiels. Dass auch Verwaltungspersonal Entertainerfähigkeit beweist, ist die eigentlich gute Nachricht. Dass dieser erste Auftritt zugleich der einzige Lichtblick des Abends war, die schlechte. Und das lag nicht etwa an Ulrike Willenbacher. Im Gegenteil, die Einspringerin fügte sich perfekt ein, sodass man das Textbuch in ihrer Hand fast vergaß – soweit die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht: Auch das lag nicht an Ulrike Willenbacher, sondern an der miserablen Qualität der gesamten Inszenierung – oder besser: daran, dass es sich um eine Nicht-Inszenierung handelte. Denn ebenso wie Ulrike Willenbacher die meiste Zeit des Abends auf einem Drehstuhl verbrachte und gelangweilt hin und her schwankte, während sie die kommenden Textpassagen überflog, saßen auch die anderen Schauspieler ohne entsprechendes Alibi herum oder schlenderten, wenn sie etwas zu sagen und zu tun hatten, gemächlich zum Einsatzort, wo es mit ähnlichem Phlegma weiterging. Rhythmusgespür gleich Null. Wenn sie etwas sagten, spürte man die verzweifelten Bemühungen, einer stümperhaften Romandramatisierung neben gelangweiltem Herunterrattern ab und zu ein bisschen übertriebene Emotion einzuhauchen. Glaubhaftigkeit gleich Null. Dilettantischer geht es eigentlich nicht.
Machen wir es kurz: Diese sogenannte Inszenierung der sogenannten Regisseurin Friederike Heller ist mit großem Abstand das Schlechteste, was sich das Bayerische Staatsschauspiel in den letzten Jahren geleistet hat. Und wir wissen, dass es um Gelder geht, wenn wir von „geleistet“ sprechen. So manches Schultheater bewegt sich, von einer gewissen sprechtechnischen Professionalität abgesehen (und auch das trifft nur auf den männlichen Teil des Ensembles zu), mit dieser Peinlichkeit auf Augenhöhe oder darüber. Wobei man bedenken muss, dass Voltaires abstruser Episodenroman nach einer grellen Umsetzung mit allen Tricks des Theaters nur so schreit. Gerne auch mit minimalistischen Mitteln – aber Friederike Heller verwechselt Minimalismus mit Arbeitsverweigerung. Und weil man selbst den Schauspielern ansieht, dass es langweilig ist, darf zwischendurch die Band so richtig Krach machen, während im Hintergrund Projektionen laufen, die offenbar Reste von Inhalt transportieren und die Schauspieler von dieser Aufgabe entlasten sollen. Die Band macht sich mit ihren Aufbauten auch in Sachen Bühnenbild als Lückenbüßer verdient – neben den wunderschönen kunterbunten Plastikgegenständen, die von oben herabhängen (ein starkes Bild von Sabine Kohlstedt) und leider von der Regie völlig ignoriert werden, als hätte man die Bühne bei der Generalprobe zum ersten Mal gesehen.
Ach, und worum geht es eigentlich in diesem Roman von Voltaire? Richtig, um das notwendige Übel in der Welt, und um den Menschen mit seinen bösen und guten Machenschaften, genau. Deshalb wird auch am Anfang ins Publikum gefragt, warum wohl der Mensch geschaffen wurde. Und am Ende nochmal. Als hätte man in dieser Aufführung etwas dazulernen sollen. Es gibt Theaterabende, bei denen man etwas lernt, weil sie besonders gut sind. Es gibt auch Theaterabende, bei denen man etwas lernt, weil sie auf bestimmte Weise misslungen sind. Aber wo nichts versucht wird, gibt es auch kein lehrreiches Misslingen. Wer also dieser Veranstaltung fern bleibt, hat nichts, aber auch gar nichts versäumt. Das ist die gute Nachricht.