Schicksalsschlag Suizid
Veröffentlicht am 7 Mai 2014 - Tags: Schicksal Gäste
In meinen Büchern nehme ich das Schicksal von der amüsanten Seite. Das Schicksal aber hart sein kann, ist sicher jedem bewusst. Annette Meißner hat einen solchen harten Schicksalsschlag erlebt. Nun erzählt sie, wie dieses Ereignis ihre Sicht auf das Schicksal verändert hat.
Foto: Andreas Hermsdorf / pixelio.de
Das Leben ist so facettenreich, dass sich niemand auf irgendwelche Eventualitäten einstellen kann.
Natürlich denkt jeder: Das passiert nur den anderen und mir nie.
Was aber, wenn das Schicksal ganz plötzlich und unerwartet zuschlägt? Wenn dich der Schlag so feste erwischt, dass es dir den Boden unter den Füßen wegzieht und dich sogar in ein tiefes Loch hineinkatapultiert? Was dann? Wie geht es weiter?
Ich habe diese Erfahrung gemacht.
Mein Sohn nahm sich mit 19 Jahren das Leben. Freiwillig und ohne Vorankündigung.
Die Nachricht über seinen Tod versetzte mir diesen Schlag, den ich soeben beschrieb. Alles um mich wurde schwarz, dumpf, undurchsichtig, unrealistisch und einsam.
Ich konnte mit diesen Empfindungen nicht umgehen und dachte, die Gesellschaft hätte Antworten auf den Umgang mit Suizid. So fragte ich tatsächlich meinen Arzt, wie lange es dauern würde, bis ich mich besser fühlen würde. Diese Frage konnte er mir selbstverständlich nicht beantworten. Also setzte ich mich in meiner Küche auf einen Stuhl und wartete ab, weinend. Vielleicht geht dieses schlimme Gefühl von ganz alleine wieder weg. Ich war anfangs nicht in der Lage, irgendetwas Produktives zu denken, geschweige denn zu tun.
Ich brauchte ein Ziel, denn in diesem Zustand konnte ich nicht weiterleben. Doch ich wollte weiter leben.
Nachdem ich mir eingestehen musste, dass ich mit der Situation alleine nicht fertig wurde, suchte ich mir Hilfe. Menschen, denen ich vertraute, vertraute ich mein Inneres an. Ich ging zum Therapeuten, besuchte Trauergruppen, verbrachte viel Zeit in einem Forum, in dem ich Gleichgesinnte antraf, und las sehr viele Bücher. Auch führte ich viele wertvolle Gespräche mit lieben Menschen.
Ich habe mich mit mir selber auseinandergesetzt und beschäftigt. Das liest sich jetzt vielleicht ganz einfach und selbstverständlich, doch was dahinter steckt, ist mit viel Arbeit, Schmerz, Tränen und Zeit verbunden. Vor allem mit Zeit. Daher möchte ich hier eine Leseprobe aus meinem Buch präsentieren.
Die Zeit
Dieses Sprichwort: „Die Zeit heilt alle Wunden …“
In diesem Falle: Falsch!
Heilen bedeutet, dass wir in den Urzustand zurückkehren. Das ist allerdings in unserer Thematik nicht der Fall. Das Ereignis, was sich zugetragen hat, ist so schwerwiegend, dass wir es niemals vergessen können – es sei denn, wir leiden an Amnesie. Obwohl ich für immer eine verwaiste Mutter sein werde, hat mir die Zeit doch sehr geholfen, mich weiter zu entwickeln.
Die Zeit verändert uns, unsere Empfindungen und unsere Wahrnehmungen – sonst nichts! Die Zeit hilft uns, mit dem Suizid unseres lieben Menschen zurechtzukommen.
Ich sprach mit vielen Betroffenen darüber und las auch viel über dieses Thema, so kam ich unter anderem auf folgende Gedanken:
Zeit kann Dein Freund sein, oder Dein Gegenspieler. Zeit läuft unaufhaltsam. Eine Stunde, völlig entspannt, in der Badewanne, vergeht viel schneller als eine Stunde im Regen auf der Autobahn stehend, auf den Abschleppdienst wartend.
Wenn es uns gut geht und wir uns wohlfühlen, dann empfinden wir diese eine Stunde, als sei sie sehr kurz. Sie vergeht oftmals viel zu schnell. So empfinden wir auch die Tage und Monate unterschiedlich lang. Blicken wir auf das vergangene Jahr zurück, denken wir, es sei im Fluge vergangen. Sehen wir auf das kommende Jahr, dann haben wir noch einen Riesenberg Zeit vor uns.
Es sind jedoch immer 365 Tage, auf die wir blicken. Allerdings vor und zurück ist ein sehr großer Unterschied.
Es dauert seine Zeit, bis ich wieder „normal“ leben kann oder will.
Wir, als Suizid-Hinterbliebene sind von niemandem geschult, sondern einfach vor die vollendete Tatsache gestellt worden. Niemand von uns wusste, wie wir damit umzugehen haben. Keine Vorbereitung, keine Anleitung. Wir müssen damit fertig werden. Dafür brauchen wir Zeit. Wir brauchen Zeit, um zu realisieren, was passiert ist. Wir brauchen Zeit, um angemessen reagieren zu können.
Wir brauchen Zeit, um unsere Leben neu zu ordnen.
Wir brauchen Zeit, um uns neu kennenzulernen.
Wir brauchen Zeit, um zu heilen, denn wir sind verletzt.
Diese Zeit sollten wir uns nehmen.
Ein Mensch, der uns nahe stand, ist endgültig aus unserem Leben für immer verschwunden. Er ist freiwillig gegangen und hat uns zurückgelassen. Wir durchlaufen in unserer Trauer mehrere Phasen, die auch wieder Zeit benötigen. Jeder Trauernde ist anders in seiner Art und gibt sich selbst die Zeit, die er benötigt. Ganz individuell.
Wichtig ist, dass wir uns die Zeit zum Trauern nehmen. Ansonsten kann es sein, dass wir in ein tiefes Loch fallen und womöglich Depressionen bekommen. Wenn wir nicht aufpassen, dann verwechseln wir die Trauerzeit mit Depressionen. Es ist schleichend. Ich kenne mich sehr gut in dieser Hinsicht aus.
Ich möchte Dir jetzt die Wichtigkeit der Zeit mit folgendem Beispiel nahe legen.
In diesem Beispiel, das ich hier aufzeige, ist „das Bild“ gleichzusetzen mit Deinem Leben, Deiner Entwicklung.
Ich möchte ein Bild malen.
Um ein Bild fertigstellen zu können, benötige ich eine Leinwand, Farben, Pinsel und Zeit. Natürlich muss ich im Vorfeld bereits wissen, was ich darstellen möchte. Nehmen wir ein Haus.
Fehlt mir eins der Utensilien, kann ich immer noch auf eine Alternative zurückgreifen. Ich meine damit: Fehlt mir ein Pinsel, nehme ich meine Finger. Fehlt mir die Leinwand, nehme ich eine andere Unterlage. Fehlt mir allerdings die Zeit, kann ich noch nicht einmal anfangen zu malen – auch wenn alle Utensilien mehrfach vorhanden sein sollten.
Gehen wir jetzt einmal davon aus, ich habe alle Utensilien beisammen und genügend Zeit. Nun kann ich anfangen, mein Bild des Hauses zu malen. Ich beginne immer mit dem ersten Pinselstrich.
Meinen ersten Pinselstrich kann ich erst dann auf die Leinwand bringen, wenn ich Farbe benutze. Nach dem ersten Pinselstrich folgt der nächste, bis mein Bild vollendet ist. Es sei denn, ich möchte, dass der leere Hintergrund mit nur diesem einen ersten Pinselstrich das fertige Bild darstellen soll. Sofern dies der Fall ist, ist es für den Moment natürlich auch in Ordnung.
Dann darf ich aber vom neutralen Betrachter des Bildes nicht erwarten, dass er das Haus auf diesem Bild, ohne meinen Kommentar, erkennt. Dieser eine erste Pinselstrich kann ebenso der Anfang des Bildes sein – es kommt immer darauf an, was ich erreichen möchte und wie viel Zeit ich mir dafür gebe.
Möchte ich erreichen, dass mein Haus nach der Fertigstellung des Bildes erkannt wird, dann benötige ich mehrere Pinselstriche, verschiedene Farben und Zeit. Die Zeit, die ich für die Vollendung des Bildes benötige, ist sehr wertvoll, denn ich nutze sie, um das Bild zu vollenden. Ich möchte, dass das Haus auf meiner Leinwand erkannt wird.
Je mehr Zeit ich nutzvoll investiere, umso deutlicher wird das Ergebnis ausfallen.
Mit der Zeit kann aus einem Haus eine ganze Landschaft entstehen.
Die Zeit ist das wichtigste und wertvollste Utensil, was wir benötigen, um uns zu entwickeln. Bitte nutze sie, wie auch immer Du sie nutzen möchtest.
Gib Dir und Deiner Trauer Zeit. Sei geduldig und glaube daran, dass es Dir mit der Zeit besser gehen wird, auch wenn Du es jetzt noch nicht sehen, fühlen oder verstehen kannst.
Wir benötigen Zeit, um uns von einem Zustand zum anderen Zustand zu entwickeln.
Wir können nichts in unserem Leben erzwingen, denn ein Grashalm wächst auch nicht schneller, wenn wir daran ziehen.
Heute sehe ich mein Leben mit und durch ganz andere Augen. Die Empfindsamkeit gegenüber anderen Menschen und Situationen ist bei mir gewachsen. Das liegt mitunter daran, dass ich den Weg zu mir fand.
Die Schuld am Suizid meines Sohnes, die ich mir selbst auferlegte, verschwand erst dann, als ich mir die Fehler, die ich in der Vergangenheit machte, mir selbst verzieh. Mir meine Fehler zu verzeihen heißt natürlich, dass ich es wert bin, mir zu verzeihen und ich bin es mir erst dann wert, wenn ich mich selbst liebe. Diese Selbstliebe konnte ich entwickeln, nachdem ich den Weg in mein Inneres ging. Dieser Weg war für mich ein Prozess, der in Gang gebracht wurde, als ich das Ziel vor Augen hatte, die Schuld von mir zu werfen.
Mein Leben ist ein Geschenk. Meine Freunde und meine Familie sind Geschenke an mich und ich an sie. Es gibt bei mir nichts, worüber man nicht reden könnte. Lösungen findet man immer.
Ich tue das, was mir gut tut und weiß die kleinen und großen Dinge, die mir das Leben schenkt, zu schätzen. Auch urteile ich nicht mehr so schnell über richtig und falsch, wie ich es womöglich vor Enricos Tod tat.
Der Tod meines Sohnes hat mich verändert. Würde er noch leben, wäre ich niemals diesen Weg zu dem Zeitpunkt gegangen. Es ist müßig darüber nachzudenken, wo ich heute stehen würde, hätte ich diesen Schicksalsschlag nie erlebt. Jetzt möchte ich meinen Sohn zitieren:
„Hätte, wenn und aber – alles nur Gelaber.“
Abschließend möchte ich für mich Folgendes feststellen:
Für mich hat es sich gelohnt, diesen Weg zu gehen. Ich bin jetzt in der Lage, mein Leben zu leben und helfe durch meine Erfahrungen anderen Hinterbliebenen und mache ihnen Mut.
Die Autorin lebt und arbeitet in Essen.
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