Schicksale im Zug

Michiel Vandevelde, Human Landscapes – Book I, 2018 (Foto: Liz Eve)

Human Landscapes – Book I (2018) von Michiel Vandevelde

Das Publikum bekommt im kleinen Bühnenraum des Orpheums beim Betreten Pölster ausgeteilt. Wo Platz ist, wird Platz genommen. Am Boden, entlang der Wände, bevor das Licht gelöscht wird und die Hand vor den Augen nicht mehr zu erkennen ist. Nach wenigen Augenblicken wird es etwas heller, ausgelöst durch Text-Einspielungen auf vier Projektionsflächen. Die sechs jungen Menschen des Ensembles von Michiel Vandevelde beginnen mit Mikrobewegungen. Langsamer als in Zeitlupe, kaum wahrnehmbar, bücken und strecken sie sich, schreiten voran. Abwechselnd wird der projizierte Text gesprochen. Man vernimmt ihn entweder vom Band oder live, von den Mitwirkenden. Nach wenigen Minuten wird klar: Das, was hier zu hören ist, ist nicht nur spannende, sondern atemberaubende, herausragende Literatur des 20. Jahrhunderts. Und noch dazu eine, die im Westen bis heute wenig bekannt ist.

Der belgische Choreograf, Kurator und Autor Michiel Vandevelde präsentierte einen dramatisierten Auszug aus Nazim Hikmets Epos „Menschenlandschaften, Buch I“. Geschrieben zwischen 1941 und 1950, noch ganz unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges, baute der türkische Schriftsteller darin ein Kaleidoskop aus Schicksalen zusammen, die in der Gesamtschau einen Gesellschaftsspiegel der Türkei der Mitte des vorigen Jahrhunderts ergeben.

Ein Kaleidoskop verschatteter Seelen

Schicksale im Zug

Michiel Vandevelde, Human Landscapes – Book I, 2018 (Foto: Liz Eve)

Was Vandevelde davon ausgekoppelt hat, ist harter Tobak. Egal ob ein Kriegsversehrter aus dem 1. Weltkrieg, der sich an die Maden in seinen offenen Wunden erinnerte, ob ein kleiner Bub, Vollwaise, der ohne Orientierung und ständig hungernd in der Welt herumirrt, egal ob ein junges Mädchen, das vor ihrer ersten Periode vergewaltigt wurde oder ein alter Mann, der dafür berühmt ist, anders zu denken als die anderen – keine der Figuren, die kurz vorgestellt wird, hat ein leichtes Schicksal zu ertragen. Das Dunkel des Raumes passt zu diesen verschatteten Lebenslinien und das reduzierte, schauspielerische Bewegungsvokabular lenkt von den eingespielten Soundwolken nicht ab. Leises Hintergrundrauschen wie von vielen Stimmen auf einem Bahnhof, ein rhythmisiertes Geräusch, das an einen fahrenden Zug erinnert – alles, was Vandevelde anbietet, hat genügend Potential, um eigenen Interpretationen und Gedankenverläufen nachzugehen. Und dennoch bleibt die Aufmerksamkeit bei Hikmets Setting, bleibt im Waggon 3. Klasse Nummer 510 des fahrenden Zuges, der einen Mikrokosmos der türkischen Bevölkerung von 1941 widerspiegelt.

Subkutan wird in der „Gesellschaftsgeschichte in Versform“ der Krieg als eine Macht beschrieben, die vor niemandem halt macht. Und als etwas, das die Menschen im Innersten erschüttert. Der angesprochene Unfall am Schluss – eine Person fällt aus dem fahrenden Zug – verstärkt das Gefühl der Verletzlichkeit des menschlichen Daseins, die bis dahin immer wieder aufgezeigt wurde. Die stickige Luft, die sich während des „choreografierten Klangstückes“, so die Bezeichnung Vandeveldes über die Form der Inszenierung, im Raum gebildet hat, ist zum Schneiden. Da hilft auch ein leichtes Öffnen der Balkontüren noch während der Aufführung nichts. Auch dieser Umstand passt, wenngleich er auch nicht angenehm ist, denn – so ähnlich kann es wohl auch damals gewesen sein. Im Waggon 3. Klasse Nummer 510 im Zug, der von Haydarpasa abfuhr.


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