„Schau doch mal Alter, was für ein Panorama…“

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Originalton auf der Fähre nach einem offensichtlich entspannten Ausflug am Bodensee mit dem Fahrrad: „Schau doch mal Alter, was für ein Panorama…“

Nach einem wie gewohnt stressfreien Arbeit als Werbetexter, der neben viel Freude an kreativer Textarbeit auch die Befriedigung gut auf wichtige Deadlines zugeschnittene Arbeitsabläufe mit sich brachte, fuhr ich um kurz vor 19 Uhr von Konstanz mit der Fähre nach Meersburg. Die Alpen mit ihrem vom Bodensee aus gesehen visuellen Höhepunkt, dem Säntis, waren gut zu sehen. Föhn schien im Anzug. Der Tag war bisher klimatisch unbeständig gewesen. Der Wind trieb die Wolken wild vor sich her über den See. In einem Moment strahlte die Sonne. Im nächsten Augenblick drohte ein Regenguss. Stand man im Wind, so fröstelte es einem. Im nächsten Moment erhitzte einen für ein paar windstille Atemzüge die durch die Wolken brechende Sonne. Doch nun am frühen Abend schwebten kaum noch Wolken über den Bodensee. Die Sonne hatte sich durchgesetzt. Blau. In welchem Blau strahlte der See. Und so nah die Berge…

Es ist schon erstaunlich, über was sich Menschen aufregen. Nein, noch erstaunlicher ist es, mit welcher Vehemenz sich Menschen über Nichtigkeiten aufregen. Menschen im Urlaub sind da erstaunlicherweise eine gute Beobachtungsbasis. Touristen also. Menschen in ausgedehnter Freizeit, die doch eigentlich in einem gewissen Zustand der Entspanntheit sein sollten. Aber nein. Es ist erstaunlich, was bereits 15 Minuten Fährefahrt hier an Stress-Dramen offenlegen. Zum Beispiel die Fahrradfahrer. Die drängeln sich (den durch das Fährepersonal angewiesenen Platz ignorierend) auf der Fähre, um den besten Platz für ihr oft geliehenes Bike zu ergattern, so dass letztlich alles kreuz und quer steht, weil keiner dem anderen einen Fußbreit Platz einräumen will – der könnte ja eher von der Fähre herunterfahren. Und es ist greifbar, dass der eine oder andere nur darauf wartet, dass jemand sein Bike, das er geparkt hat als wäre es ein Auto, nur antippt…

Wobei oben erwähnte Fahrradtouristen so mit sich selbst beschäftigt waren, dass sie weitgreifend andere Fahrradtouristen ignorierten. Wahrscheinlich zwei Ehepaare. Fortgeschrittenen Alters. Die Damen schafften es gerade noch auf die Fähre. Der Schlagbaum war schon geschlossen. Er wurde auf bittendes Zurufen der Damen noch einmal geöffnet, während ihre Männer in einem vehementen Streitgespräch über die letzte Runde in einem Lokal versunken waren, die der eine doch ruhig hätte übernehmen können, als ihre (von ihnen offensichtlich ganz vergessenen) Frauen auf die Fähre radelten. „Warum seid ihr voraus gefahren?“ (Ein Klassiker). „Wir haben doch gesagt, wir nehmen die nächste Fähre, und das ist sie“ (wäre ein Drama gewesen, die Fähre 15 Minuten später zu nehmen). „Du hast deinen Helm nicht auf!“ (ach die Fürsorge). „Stehen tut der dir aber nicht“ (die Fürsorgliche als der Angesprochene seinen Helm demonstrativ aufzieht). „Das Bier schmeckte eh schal“ (der die letzte Runde schuldig gebliebene Beschuldigte). „Abgemacht ist abgemacht!“ (der die Zeche zahlende). „Abgemacht war, wir bleiben zusammen!“ (eine der Frauen). „War doch mal gut, dass ihr auf Trab kommt, habt es ja geschafft!“ (der eine – denke ich – Ehemann).

Da ich nach meinem stressfreien Arbeitstag die Überfahrt ebenso stressfrei auf dem Oberdeck in der Sonne genießen wollte, ließ ich die vier hinter mir zurück. „Toll hier, schöne Aussicht, Wetter gut, aber kein gutes Netz!“, schrie der Herr in der Sitzbank neben mir in sein Handy, während er auf der Suche nach dem guten Netz allerlei Verrenkungen machte, mal mit dem Kopf fast den Boden berührte, mal sich, einen Fuß auf der Bank, gen Himmel streckte, ohne der herrlichen Aussicht überhaupt einen Blick zu würdigen (aber vielleicht hatte er zuvor mit seinem Handy ja ein Bild geschossen). Eine Sitzgruppe weiter stritten sich zwei Kinder um ein halbes Brötchen, weil beide – und das heißt nur eines von beiden – gerne den Möwen Brotkrumen hingeworfen hätten. Der Vater ignorierte den Streit, weil er im Fahrtwind seine Zigarette nicht zum Brennen brachte. Die Mutter löste den Streit, indem sie das ganze halbe Brötchen nahm und es einfach über die Reeling warf, was sich produktiv auf die Stimmung der Kinder auswirkte, und den Vater anregte, eine ziemlich unflätige Tirade über die Fähigkeiten seiner Frau, Kinder zu erziehen, und über den Wind loszulassen. „Scheiß Wind und halt doch endlich mal die Kinder ruhig!“ (zensiertes und gekürztes Zitat).

Es ist schon erstaunlich, über was sich Menschen aufregen. Nein, noch erstaunlicher ist es, mit welcher Vehemenz sich Menschen über Nichtigkeiten aufregen. Wahrscheinlich so wie ich gerade. Da ich mich von derlei nichtigen Beobachtungen anregen lasse, einen Blog-Senf abzugeben. Wobei ich nach meinem stressfreien Arbeitstag diese Worte ganz ruhig, unaufgeregt niederschreibe. Amen, Yoga und Qigong und so. Also quasi locker aus der Hüfte geschossen. Aber wie dem auch sei, die Viererbande war, als ich zurück zu meinem Roller ging, immer noch intensiv dabei, über das Vornewegfahren der Männer (und das nicht Bezahlen der letzten Runde des einen Mannes) zu disputieren.

Aber was heißt schon Nichtigkeit? Jeder Krebs beginnt mit einer kleinen, winzigen Zelle, die aus dem Ruder läuft. Nichtigkeiten, die zu Streitigkeiten führen, sind die Keime, die es behutsam aufzunehmen gilt, zu betrachten – und zu isolieren, denn an ihnen zeigt sich Größeres. Sie sind der kleinste gemeinsame Nenner für das Chaos. Packt man sie nicht, löst diese kleinen Keime nicht auf, dann war es das. „Siehst du, so ist das nach so vielen Jahren Ehe“, meinte der eine Mann, der sich immer noch offensichtlich dämlich mit seinem Fahrradhelm fühlte, als seine Frau, die sich zuvor über das Nichttragen mokiert hatte, in dem Moment, als ich zum Roller zurückkehrte, meinte: „Zieh doch mal den dämlichen Helm ab, noch brauchst du den nicht!“

„Nichts kann man richtig machen!“, meinte er. Dies war der Augenblick, als sie sagte: „Schau doch mal Alter, was für ein Panorama…“ – und die Touristen endlich für einen Moment dort ankamen, wo sie eigentlich hinwollten. Dorthin, wo wir alle sein wollen. Im Angesicht des Schönen. Alle vier blickten gen Alpen. Der eine Mann zückte seine Kamera. Klick. So schön war es am Bodensee. Der andere Mann meinte schnippisch. „Teures Modell. Aber zu geizig, die Runde zu zahlen.“

Nichtigkeiten halt. Der kleinste gemeinsame Nenner für das Chaos in der Welt.


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