Sauerstoffaufnahme und anaerobe Schwelle

Von Wonseong

Ich habe gerade drüben bei competitor.tv einen schönen Video-Beitrag gesehen von einem Symposium, dass vor ein paar Tagen in den USA stattfand (Wie verrückt ist DAS eigentlich? Da können wir anywhere anytime einen Vortrag miterleben – entweder live gestreamt oder eben aufgezeichnet. Fantastisch!).

Die gute Polly Demille referiert in diesem Vortrag über die Themen VO2max. und die anaerobe Schwelle und darüber, ob das interessante Zahlen sind, die wir kennen sollten. Da habe ich mich dabei ertappt, dass ich eine weitgehende Kehrtwende durchgemacht habe von einer vollkommenenen Technikgläubigkeit (Stichwort: „Unsere Atom-Meiler sind komplett sicher!“ … statistisch betrachtet) hin zu einem (ich nenne das jetzt mal) „gefühlvolleren“ Ansatz der Trainingssteuerung. Und die Metapher mit der Zahlengläubigkeit in Zusammenhang mit der friedlichen Nutzung der Atomenergie ist gar nicht so weit draußen. Sehr viele Menschen (insbesondere in unseren westlich-kapitalistischen Gesellschaften und hier v.a. in Deutschland) gieren in fast jedem Zusammenhang nach Zahlen. Zahlen erklären die Welt, können einfach alles erklären. Wenn man nur verlässliche Marker finden würde für die effektivste Art der sexuellen Interaktion…das geht zu weit…

Man muss immer verstehen, wo die Menschen herkommen. Polly arbeitet an einem sportwissenschaftlichen Institut. Sie hat das studiert (und wurde so mental auf eine bestimmte Spur gesetzt). Ähnlich wie ich einen wirtschaftswissenschaftlichen Background habe und ergo mehr oder minder bewusst viele Dinge des täglichen Lebens in Kosten-Nutzen-Relationen bewerte. Ich glaube, dass bestimmte Zahlen helfen können, die Welt besser zu verstehen. Wir sollten aus meiner Sicht nur dabei aufpassen, WAS wir WIE  und WARUM (zu welchem Zweck) messen mit WELCHEN Ergebnissen und WELCHER Interpretation.

Und da sage ich mal folgendes: Die Schwankungsbreite allein nur der Messungen MEINER anaeroben Schwelle sind so groß und offensichtlich mit so vielen Faktoren behaftet, die nur schwer zu kontrollieren sind und ein Ergebnis uneinheitlich machen und damit schwer interpretierbar, dass das gewonnene Zahlenmaterial als weitgehend nutzlos anzusehen ist. Klar war es mal witzig, als junger Athlet seine rel. VO2max. von über 70 auf einem schönen Ausdruck zu sehen und damit die „offizielle Adelung“ eines potenziell großartigen Ausdauerathleten in den Händen zu halten … aber was heißt das konkret für mein Training?

Das ist doch die entscheidende Frage! Kann ich konkrete Handlungsempfehlungen abgeben, die auch realistsich umsetzbar sind?

Die maximale Sauerstoffaufnahme ist ohnehin weitgehend genetisch vorgegeben. Alle Spitzenathleten haben eben von Mama und Papa eine gute VO2max. mitbekommen. Vielen Dank auch an dieser Stelle. Trainierbar ist an der „Decke“ nach oben aber fast gar nichts und *schluchz* sie nimmt auch noch mit dem Lebensalter stetig ab…

Die anaerobe Schwelle dagegen ist sehr wohl trainierbar. Und wir sollten sie auch traineren. Wenn ich mich aber umschaue, sehe ich lauter Amateur-Athleten, die panisch auf ihre Hochleistungstechnik in Form von Pulsuhren schauen, aber im Grunde gar nichts mit den Zahlen anfangen können. Selbst wenn sie jetzt wirklich Ahnung hätten (was IMHO die absolute Ausnahme ist und in aller Regel nicht wirklich tief und fundiert ist), ist eine natürliche Schwankung von Tag zu Tag (Tagesform) und auch innerhalb eines Tages einfach mal vorhanden und kann nicht wegdiskutiert werden.

Was mir außerdem auffällt: Ja, wir sollten diese ominöse VO2max. trainieren – aber wer tut es denn? Nachhaltig? Regelmäßig? Ich kenne kaum jemanden. Da heißt es nämlich schinden! Und offensichtlich zeigen neueste wissenschaftliche Untersuchungen auch, dass das Thema anaerobe Schwelle massiv überbewertet ist und es ganz offensichtlich schwer ist, genau „an der Schwelle“ zu trainieren (selbst wenn wir wollten und es einen irgendwie gearteten speziellen Sinn machen würde – was es nicht tut).

Fazit aus meiner Sicht: Vergesst die anaerobe Schwelle, vergesst die rel. VO2max.! Vergesst die ganze Testerei auf irgendwelchen schlecht kalibrierten Ergometern oder Laufbändern (nebenbei: welches Protokoll nutzen wir, welches ist „das Richtige“? 3-Minuten-Intervalle oder doch lieber 5-Minuten-Intervalle? Validiert durch wen?)!

Für uns Langzeitausdauer-Athleten: Schaut zu, dass Ihr eine ordetliche Grundlagenausdauer hinkriegt (ich sag’ nur: Long Slow Distance – LSD). Ab und zu ein Spritzer an oder auch über der anaeroben Schwelle einstreuen (gern auch als kleines Trainingsrennen wie bei mir am letzten Sonntag). Der Mix macht’s halt wie immer. Und dieser ist individuell sehr unterschiedlich. Weshalb auch irgendwelchen unspezifischen Trainingspläne aus dem Web (oder sonstwie standardisierte Produkte) einfach nicht sinnvoll und zielführend sind.