unsere beschauliche wahlheimat steht nicht gerade im verdacht, tummelplatz der top-kreativen oder versuchslabor für werbeagenturen zu sein. dennoch: die internationalen guerilla- und branding-trends gehen auch an göttingen nicht spurlos vorbei. in letzter zeit konnten vermehrt beispiele sog. „streetbrandings“ bzw. „reverse grafittis“ beoachtet werden. jüngster fall: die bäckerei thiele in der göttinger innenstadt.
doch was bedeutet eigentlich „streetbranding“? was wird überhaupt bei „reverse grafitti“ umgekehrt? wir nähern uns mal der thematik am beispiel der göttinger bäckerei und versuchen, die wichtigsten fragen zu beantworten.
worum geht es? reverse grafitti ist vor wenigen jahren in den USA aus der illegalisierung klassischer grafitti heraus entstanden und damit per se erst einmal eine kunstform, die ungefragt und frei zur verfügung gestellt wird. dabei wird das prinzip des grafitti umgekehrt und flächen nicht besprüht, sondern selektiv gereinigt. doch menschen wie der street-artist paul curtis machen mehr, als „putz mich“ in eine verdreckte autoscheibe zu malen. sie stellen als protestbewegung gegen die (verständlicherweise) restriktive gesetzgebung die anti-grafitti-politik der städte auf den kopf. zur juristischen lage später mehr…
wie geht es? das prinzip ist so einfach wie genial: mit schwamm und bürste in der einen und einer schablone in der anderen hand machen sich die künstler ans werk. im gegensatz zu sprayern verschmutzen sie flächen jedoch nicht, sondern reinigen systematisch teile davon. die botschaft ist dieselbe – und der effekt maximal. aus der naturgegebenen vergänglichkeit der bilder und der beschränkung auf die ursprüngliche farbe des untergrunds entstehen neue, minimalistische ausdrucksformen.
ist es erlaubt? streetbrandings dieser art stoßen in eine juristische lücke des §303 StGB (sachbeschädigung). demnach begeht jemand eine sachbeschädigung, der rechtswidrig eine fremde sache beschädigt oder zerstört. dieser tatbestand ist i.d.r. bei klassischen grafitti gegeben – nicht aber bei reverse grafitti. ihnen verhilft mutter natur zur legalität: klickstu
der zweite absatz des paragraphen besagt nämlich, dass ebenfalls bestraft wird, wer „das erscheinungsbild einer fremden sache nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert“. durch abgase und witterung ist genau das in den meisten fällen gegeben: die veränderung der genutzten oberfläche ist weitestgehend unerheblich und in jedem fall vorübergehend. aber vorsicht: noch besteht in zusammenhang mit reverse grafitti keine einigung, wie „vorrübergehend“ zu verstehen ist.
warum wird es im marketing genutzt? diese frage lässt sich generalisieren und auf das guerilla-marketing allgemein übertragen: es ist unkonventionell und fällt damit inmitten der masse von werbebotschaften auf, denen sich konsumenten täglich gegenübergestellt sehen. konsumenten werden angesprochen wo und wenn sie es am wenigsten erwarten, nämlich in vermeintlich werbefreien zonen – also dort, wo der gesetzgeber bzw. die stadtverwaltung eine (ge-)werbliche nutzung der flächen untersagt hat. und last but not least: es ist extrem günstig. mehr als eine schablone, ein eimer wasser und eine bürste sind nicht nötig – profis nehmen noch einen hochdruckreiniger mit auf die werbetour. damit fallen im besten fall überhaupt keine kosten an, der return on marketing investment ist also nicht zu überbieten.
warum nutzt die bäckerei thiele es? zunächst einmal ganz simpel: aus den oben genannten gründen. günstigkeit, effizienz, innovation. werte, mit denen sich anscheinend auch ein bäcker gerne schmückt. dazu kommt noch ein anderer umstand: mit lichtkunst24 sitzt in unmittelbarer nähe eine agentur, die ähnliche streetbranding- und reverse grafitti-projekte auch schon für die konkurrenz umgesetzt hat – es besteht also akuter handlungsbedarf. und zu guter letzt: gerade bei bäckereien, deren produkte meist impuls-gesteuert und spontan gekauft werden, ist es eine zentrale herausforderung, im umfeld der filialen zu werben – ungeachtet der gegebenen möglichkeiten.
wie sieht es die stadt göttingen? nachdem meine freundliche schriftliche anfrage beim ordnungsamt leider ignoriert wurde oder seit knapp einer woche auf der suche nach dem richtigen ansprechpartner von kaffeetasse zu kaffeetasse weitergeleitet wird, habe ich versucht, telefonisch ein statement zu bekommen. die ansage lautete: rechtlich habe man keinen handlungsspielraum und ich wurde auf einen artikel von göttinger tageblatt verwiesen, die anscheinend kurz vorher dieselben fragen gestellt hatten.
fazit: streetbranding und reverse grafitti haben potential – großes potential. es könnte die städte verändern. und unsere einstellung gegenüber schmutz – steckt nicht in jedem verdreckten zigarettenautomaten ein verborgenes kunstwerk? beschweren kann sich eigentlich niemand. es besteht die gefahr, dass am ende jeder sowas macht? wunderbar, porentief rein soll unsere stadt werden!
zum abschluss noch ein making-of der konkurrenz-aktion von lichtkunst24 für kamps: