Dornstrauch ist auf dem Gipfel seiner Macht. Oder sollte man besser sagen ihrer Macht? Isabella Wolf spielt in dem neuen Stück von Anna Poloni „Carambolage oder der Schwarze Punkt“ jenen androgynen Charakter, der sich erst im Laufe des Abends als weiblich und sogar als Mutter zu erkennen gibt. Als Chefin eines großen Medienkonzernes verschanzt sie sich gerne hinter ihrem riesigen, gerundeten Schreibtisch, auf dem die gemalten Ausläufer von Michelangelos Erschaffung Adams zu erahnen sind, die großflächig den Boden der Bühne zieren. „Ich bin Gott“ oder zumindest „Gott ähnlich“ assoziiert dieser clevere Teil des Bühnenbildes, für das Lydia Hofmann kräftig die Pinsel schwang. Das erste Mal auch in der Geschichte des Hauses wandert das Bühnenbild im Hamakom/Nestroyhof auch hinaus in das Foyer. In einer Renaissance-Replik hat Hofmann dort Fensterstürze und Wände mit ornamentalen Musterbordüren eingefasst – ein mühsam mit Grafitstift erzeugtes Kunstwerk, das diesen Raum mit einer noblen Attitüde ausstattet und mit einem Anflug einer zur Schau gestellten Machtäußerung versieht. Und tatsächlich sind es auch Macht und Ohnmacht, die auf der Bühne verhandelt werden. Positionen, die instabil sind, sich beständig verändern, obwohl es zu Beginn des Anstoßes den Anschein hat, dass die schwarzen und weißen Kugeln im Lebensspiel klar verteilt seien. Auch der Bühnenraum selbst bleibt an diesem Abend nicht statisch, unterliegt einer permanenten Wandlung, wenngleich einer sehr subtilen, die mit wunderbaren Schattenspielen aufwartet und mit einer feinen Lichtregie (Lukas Kaltenbäck) die Wandlung des Dramas spiegelt und unterstützt.
Ein Stück von Musik durchdrungen
Anna Maria Krassnigg, die einen Großteil der Aktivitäten ihres Salon5 ins Hamakom verlegen konnte, um dort gemeinsam mit dem Hausherrn Frederic Lion dem Publikum ein intensiver bespieltes Haus bieten zu können, zeichnet für die Regie verantwortlich. Dabei greift sie auf ein bewährtes Team zurück und setzt starke Akzente mit der Musik von Christian Mair, der an diesem Abend auch auf der Bühne – oder zumindest einem Nebenschauplatz derselben – permanent präsent ist. An der E-Gitarre, hinter einer schwarzen Pilotenbrille die Augen wohl geschützt, agiert er als spiritus musicae, als einer, der das Geschehen musikalisch rhythmisiert, akzentuiert, mit einem zusätzlichen Drive versieht oder zeitweise auch nur akustisch punktuell untermalt.
Das war eine sehr kluge Entscheidung. Denn der Text selbst ist ein musikalisch Geprägter. Und er bietet den Spielenden zusätzlich Raum, Emotionen, die nicht in Sprache ausgedrückt werden wollen, anschaulich zu machen. Krassnigg selbst bezeichnet das Poloni-Werk als ein modernes Königsdrama – Sohn rebelliert gegen seine Eltern und ermordet schließlich seine Mutter, um an die Macht zu kommen. Und doch ist es viel, viel mehr als das – nämlich eine tiefsinnige Systemkritik. Nach dem Erfolg von „Camera Klara oder Wie man leben muss“ ist es das zweite Theaterstück der Autorin, die sich medial völlig bedeckt hält. Vielleicht ist das auch gut so, denn dadurch muss sich die Rezension völlig auf ihre Arbeit konzentrieren, ohne von Privatem abgelenkt zu werden. Poloni hat mit „Carambolage“ einen weiteren Meilenstein in ihrer dramatischen Kunst gesetzt. Mit Sätzen, deren Aussagekraft so scharf wie ein Skalpell in die zeitgenössische Befindlichkeit der westlichen Welt schneidet, dürfte sie zumindest einen Teil ihres Publikums beunruhigen. Jenen, der gewachsene Machtverhältnisse als unumstößlich ansieht auf alle Fälle. „Was tun“ ist das Motto dieser Saison im ehemaligen jüdischen Theater am Nestroyplatz und genau diese Frage stellen sich in Polonis Stück alle Figuren.
Fünf unterschiedliche Charaktere
Dornstrauch, die Konzernchefin und Rabenmutter, die sich nicht um ihren mittlerweile erwachsenen Sohn kümmern wollte. Isabella Wolf brilliert darin als alternde Medienmogulin, die trotz all ihrer Machtfülle am Ende ihres Lebens von Zweifeln und Ängsten aufgefressen wird – und das „fünf Minuten vor Tod. Unpassend“, so eine ihrer letzten lapidaren Äußerungen. Der Vater ihres Sohnes Enrique ist der mit Goldketten behangene Nachtclubbesitzer Don Gian. Schmierig, bedrohlich aber dennoch mit Herz wird er von Martin Schwanda gespielt, der in der Rolle aufgrund der Maske kaum wiederzuerkennen ist. Enrique, der missratene Sohn, Anarchist und Dauerrevoluzzer, scheint Raphael von Bargen wie auf den Leib geschrieben. Seine Verweigerung funktioniert aber nur solange, solange er in seinen Eltern auch tatsächlich eine Reibungsfläche findet. Erst als sein Vater ihm durch einen nicht jugendfreien Song die ständige Gegenoffensive aus der Hand nimmt, muss sich Enrique eine andere, neue Lebensstrategie erfinden. Brand wiederum, jener junge Jurist und Journalist, der es wagt, den Familienskandal seiner Arbeitgeberin aufzudecken, hat in diesem Spiel am meisten zu verlieren. Murali Perumal verleiht dem Charakter trotz der Jugend eine beinahe abgeklärte Identität. Er wird nicht laut, er begehrt nicht auf, aber er weiß ganz genau, dass er das moralische Recht zwar auf seiner Seite hat, das Spiel für ihn aber beendet ist. Und schließlich gibt es noch ein sehr spezielles Wesen. Engel oder auch Angie genannt. Petra Staduan changiert permanent zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Himmel und Hölle. Zwar trägt sie die Liebe in sich, aber die ihr zugefügten seelischen Verletzungen – von allen Mitwirkenden – treiben ihr ihre anfängliche Empathie komplett aus.
Jede einzelne Figur in Polonis Werk steuert unaufhörlich jener Katastrophe zu, die am Ende nicht nur einen Verlierer, sondern überhaupt keine Gewinner kennt. Und doch gelingt der multilingual agierenden Autorin mit diesem Stück längst nicht nur ein Familiendrama der zeitgemäßen Art. Vielmehr fängt sie jene Stimmung ein, die sich seit spätestens 2008 landauf, landab als hoffnungslos beschreiben lässt. Das Gefühl, verschiedenen ökonomischen Mächten völlig ausgeliefert zu sein, in ein strikt vorgegebenes Schema passen zu müssen, effizient sein zu müssen und zugleich nichts an Eloquenz zu verlieren, das Gefühl durch die großen Medienkonzerne ununterbrochen manipuliert zu werden, schwingt vom Beginn bis zum Ende mit. Es echot damit nichts anderes als jenen Zukunftspessimismus, der zumindest die westliche Hemisphäre voll und ganz ergriffen hat und dem bislang noch keine wirksamen Gegenstrategien entgegengesetzt werden können. Da bilden alle Protagonistinnen und Protagonisten auf der Bühne neben ihren familiär besetzten Rollen zugleich die Möglichkeit, in ihren Menschenmetaphern jene Zu- und Umstände zu erkennen, die uns unser heutiges Leben so schwer, für viele beinahe unerträglich machen. Dornstrauch steht dabei für jene persönliche Verdrängungsstrategie, die vermeintlich angewendet werden muss, um im beruflichen Umfeld zu bestehen. Don Gian – ihr Gegenspieler – ist mittels seiner sexuellen Virilität und genügend Drohpotenzial in der Lage, sich sein eigenes Triebreich aufzubauen. Außerhalb dieser Mauern jedoch fühlt er sich völlig unsicher. Der aufdeckende Journalist Brand ist eine Art neuer Michael Kohlhaas. Gerechtigkeit ist ihm mehr Wert als das eigene Wohlergehen, weshalb er in der Logik dieser „Jeder-gegen-Jeden-Gesellschaft“ als Aussätziger gebrandmarkt werden muss. Bleibt noch der Engel – eine nicht wirklich fassbare Figur, die sich je nach Windrichtung auch schon einmal gerne mitdreht, die vorgibt zu lieben, aber sich bei der ersten großen Erschütterung in ihr Seelengehäuse zurückzieht und ihre Heilung von anderen Partnern erhofft. Ihre wesentlich komplexere Gefühlslage als die der anderen Mitspielerinnen und Mitspieler darf Petra Staduan in mehreren barockgleichen Arien ausbreiten. Ihr klarer und zugleich zarter Alt ziehen das Publikum magisch in eine andere, nur ihr zugeschriebene und nicht wirklich fassbare Welt. Enrique, der polternde Sozialautist, ist einer von vielen, die das System nur durch Rebellion zu überwinden versuchen. Solange er sich jedoch in diesem Zustand befindet, kann er in die Machtzentrale seiner Mutter nie eindringen. Seine peu à peu vorgenommene Kostümverwandlung vom Punk zum Big Boss macht klar, dass auch ihm kein anderer Weg als jener der Anpassung, ja sogar Assimilierung bleibt, um ein bestimmender Teil des Spieles werden zu können.
Kraft und Verstörung
„Carambolage oder der schwarze Punkt“ ist ein bitterböses, tiefes, berührendes und zeitabbildendes Drama. Ein Stück, und das hat Krassnigg völlig richtig gedeutet, das durch seine Familienkonstellation einen direkten Bogen von uns in die Antike zurückschlägt und dabei noch dazu ohne Miserere auskommt. Wer mit diesem Text nicht kann, und das dürften vielleicht gar nicht so wenige sein, dürfte mit sich selbst nicht können. Hinzu kommt, dass er Bildung und Sprachgefühl voraussetzt, um ihn in seiner Tiefe ausloten zu können. Sätze wie Messerschnitte, Charaktere so verletzt, hart, grausam und unbeholfen wie im richtigen Leben und ein enigmatisches Wesen, eine permanent zum Showdown führende Handlung, ohne die Möglichkeit einmal Luft holen zu können – darin liegt Kraft aber auch Verstörungspotenzial. Das ist harter Tobak. Krassnigg verabreicht ihn – beinahe möchte man sagen – perfide in einer überaus lyrischen Bildsprache. In einem Wechselbad zwischen High-Speed und ruhigen, langsamen Momenten. Für sie ist – und das spürt man an diesem Abend stark – das Theater ein magischer Ort. Ein Ort, an dem Emotionen empfunden werden dürfen, aber auch ein Ort, an dem vor allem gedacht werden darf. Die Frage „Was tun“ beantwortet Carambolage letztendlich nicht. Aber das Stück zeigt überdeutlich auf, dass die Zeit überreif ist, irgend etwas zu tun. Darin liegt seine große Stärke.