Sarrazins Sieg (1.1)

Die “Sozialistischen Positionen” haben meinen emotional doch stark aufgeladenen Text zu dem “Phänomen Sarrazin” dankenswerterweise korrigiert und überarbeitet. Diese Version steht nun allen Interessierten zur freien Verfügung. Ich bitte nur darum, bei eventuellen Reposts den Autorennammen und die Quelle ( konicz.info ) anzugeben.

“Ich fürchte mich nicht vor der Rückkehr der Faschisten in der Maske der Faschisten, sondern vor der Rückkehr der Faschisten in der Maske der Demokraten.”
Theodor W. Adorno

Trotz seines Ausscheidens aus dem Bundesbankvorstand hat der ehemalige Finanzsenator von Berlin Thilo Sarrazin (SPD) in der jüngsten Debatte um seine rassistischen Thesen einen wichtigen Sieg errungen. Im Verlauf der öffentlichen Auseinandersetzung um seine in Buchform gepressten rassistischen Ausfälle gelang es Sarrazin und seinen Unterstützern aus Politik und Medien, einen essenziellen zivilisatorischen Mindeststandard in der BRD zu schleifen, der bislang in der Öffentlichkeit der meisten kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaften zumindest rein formell eingehalten werden musste: Offen rassistische oder antisemitische, klar auf neofaschistischer Ideologie aufbauende Positionen und Äußerungen wurden bis vor Kurzem in der Öffentlichkeit nicht toleriert.
Rassistische und antisemitische Überzeugungen fanden in dem massenmedial veröffentlichten Diskurs nur vermittelt – nach einem Prozess des ideologischen „Weichspülens“ - ihren Widerhall, indem sie zumeist kulturalistisch oder mentalitätsgeschichtlich umformuliert wurden. Ganze Generationen von Naziideologen konzentrierten sich etwa darauf, das rassistisch motivierte „Ausländer Raus!“ als eine Unvereinbarkeit unterschiedlicher, kulturell angelegter „Mentalitäten“ neu zu interpretieren. Die kulturelle Prägung - die im Endeffekt zu einem Synonym für Rasse avancierte - würde ein Zusammenlaben unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen unmöglich machen, so die Essenz dieses neurechten „Kulturalismus“ oder „kulturellen Rassismus“.

Doch nun darf wieder über Gene, Rasse und Erbanlagen öffentlich „debattiert“ werden. Mit dem ungeheuren Widerhall, den die klar rassistisch grundierten Kernthesen aus Sarrazins literarischem Machwerk „Deutschland schafft sich ab“ in breiten Schichten der deutschen Bevölkerung fanden, geht ein regelrechter zivilisatorischer Dammbruch einher, der künftig der offenen demagogischen Hetze über die „minderwertige genetische Ausstattung“ ganzer „ausländischer Populationen“ Tor und Tür öffnet. Es darf wieder über die genetische Disposition von Menschen und Migrantengruppen, letztendlich über Rasse, diskutiert werden. Im Kern geht es den Ausführungen Sarrazins tatsächlich um ordinären, rassistischen Neofaschismus, der ganz klar auf ideologischen Versatzstücken aufbaut, die ebenfalls zum innersten Bestandteil der Ideologie insbesondere des deutschen „Nationalsozialismus“ gehörten.

Dieser Umstand fällt bezeichnenderweise auch reaktionären deutschen Konservativen auf, wie etwa Frank Schirrmacher von der FAZ: „Thilo Sarrazin hat nicht ein Buch geschrieben, sondern mindestens drei Bücher, die den gleichen Titel tragen. Sie sind ineinander verschachtelt wie die russischen Matrjoschka-Puppen. Es geht um Demographie, um Wirtschaft und dann, im innersten Kern des Ganzen, um Biologie. Wer zu der dritten Puppe nicht vorstößt, versteht das Ausmaß der Aufregung nicht. Denn im Innersten dieses Buches steckt eine vulgärdarwinistische Gesellschaftstheorie, die mit einer Unbefangenheit dargelegt wird, als hätte es die Erfahrungen des Zwanzigsten Jahrhunderts nicht gegeben.“

Es ist dieselbe neue deutsche Unbefangenheit, mit der während der Fußball-WM in der BRD der angeblich „harmlose“ und „sympathische“ Flaggenpatriotismus initiiert wurde. So wie die permanente Nationalbeflaggung ganzer Schrebergartenkolonien und Vorstadtviertel nach dem „Schwarz-Rot-Goldenen Sommermärchen“ von 2006 zum deutschen Alltag geworden ist, so wird auch künftig der sozialdarwinistische und rassistische Diskurs über „Schmarotzer“ und „Ausländer“ auf eine weitaus höhere öffentliche Akzeptanz stoßen. In gewisser Weise ist diese Abfolge nur folgerichtig. Schon immer war die Ausgrenzung von „andersartigen“ Gruppen Teil nationalistischer Identitätsbildung – die „bunte“, „harmlose“ und „fröhliche“ deutsche Identitätsorgie während der Fußballweltmeisterschaft 2006 (und auch 2010) trägt den Keim des Hasses gegen alle nicht dem nationalen Kollektiv zugerechneten Bevölkerungsgruppen in sich.

Der Riss in Öffentlichkeit und Funktionseliten

Zum Durchbruch dieses sozialdarwinistischen, rassistischen und tendenziell antisemitischen Diskurses trug – trotz aller Selbstdarstellung - selbstverständlich nicht Sarrazin im Alleingang bei. Obwohl der ehemalige Berliner Finanzsenator sich gerne als ein unbeugsamer und prinzipienfester Einzelkämpfer darstellt, der nur „unbequeme Wahrheiten“ ausspreche, erhält er doch umfassende politische und mediale Schützenhilfe. Dutzende von Politikern und Publizisten haben sich ganz oder teilweise auf die Seite Sarrazins geschlagen: Gutenberg, von Dohnanyi, Kelek, Gauweiler, Broder oder Clement, um nur einige zu nennen. Zudem geraten gerade Merkel und Wulff, die auf eine schnelle Marginalisierung Sarrazins setzen, öffentlich und innerhalb der CDU nun selber verstärkt unter Druck. Eine Isolierung Sarrazins, ein öffentlicher Konsens zur einhelligen Verurteilung seiner menschenverachtenden Thesen, ist nicht mehr möglich. In erster Linie ist aber natürlich der Springer-Konzern mitsamt der Bild-Zeitung zu nennen, die eine regelrechte Kampagne für Sarrazin initiiert hat. Der Ausländer-Hetzer wird dann in deutscher Tradition als die berüchtigte „Verfolgte Unschuld“ imaginiert, die dem politisch-korrekten Meinungsterror ausgesetzt sei. Gegen eine von „Gutmenschen“ errichtete Meinungsdiktatur stritten die für das hohe Gut der Meinungsfreiheit kämpfenden „Underdogs“ um Bildzeitung und Sarrazin an.

Der Riss in der veröffentlichen Meinung deutet auf einen strategischen Umschwung bei einer Minderheit der Funktionsträger aus Kapital, Medien und Politik hin, die sich nun eine faschistische Option bei weiterer Krisenbewältigung offenhalten wollen. Sarrazin findet aber nur bei den reaktionärsten und chauvinistischsten Teilen der Funktionseliten und der herrschenden Klasse der BRD derzeit tatsächlich Unterstützung. Die hohe Abhängigkeit der dominanten deutschen Exportindustrie von den Auslandsmärkten, die gerade vermittels einer erneuten Exportoffensive die Dynamik der Weltwirtschaftskrise zu durchbrechen hofft, verhindert eine weitgehende Unterstützung einer neofaschistischen Partei durch breite Kreise des deutschen Kapitals. Ausartende ausländerfeindliche Umtriebe in der BRD könnten die Auslandsgeschäfte der Konzerne des ehemaligen Exportweltmeisters Deutschland beeinträchtigen. Die „faschistische Option“ käme für die herrschende Klasse nur dann infrage, wenn eine weitere Zuspitzung der Weltwirtschaftskrise die exportorientierte deutsche Volkswirtschaft - mitsamt deren kapitalistischen Produktionsverhältnissen - existenziell erschüttern sollte. Sollten die Auslandsmärkte wegbrechen, auf denen das deutsche Kapital derzeit verstärkt investiert und exportiert, drohen nicht nur enorme soziale Verwerfungen in Deutschland – auch ein entsprechend modernisierter und an die gegenwärtigen Krisenbedingungen angepasster „Faschismus des 21. Jahrhunderts“ würde dann zu einer letzten Option für die deutschen Funktionseliten der Kapitalakkumulation. Derzeit gleicht aber die von vielen Massenmedien betriebene Instrumentalisierung der Xenophobie in Deutschland einem Balanceakt zwischen dem Aufbau von Feindbildern - der den vom ökonomischen Abstieg bedrohten Menschen Sündenböcke liefert – und der Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten in den Exportmärkten.

Der Massenjubel

Tatsache aber ist auch, dass der Vorstoß Sarrazins auf eine ungeheure Resonanz in breiten Schichten der Bevölkerung traf. Viele linke oder progressive Kommentatoren dieser jüngsten braunen Deutschen Welle ignorieren oder relativieren dieses entscheidende Moment. Die sattsam bekannte Metapher, die diese potentiellen Mitläufer als die dummen Kälber imaginiert, die da verführt und zur faschistischen Schlachtbank geführt werden, greift nicht. Viele der sich nun massenhaft in Forenbeiträgen oder Leserbriefen äußernden Sarrazin-Anhänger tragen selber die Züge des Schlachters. Mit einer Art fast schon euphorischer Erleichterung jubeln sie dem Mann aus der deutschen Funktionselite zu, der endlich das offen ausspricht, was „alle Denken“. Selbst wenn die derzeit publizierten Meinungsumfragen, wie die von Emnid in Auftrag der Bild-Zeitung prognostizierten 18 Prozent für eine Sarrazin-Partei, tendenziös sein sollten, so gehen sie doch zumindest annähernd die tatsächliche Stimmung in der Bevölkerung wieder. Auch eine Forsa-Umfrage für den Stern ermittelte, dass jeder Zweite Deutsche die geplante Entlassung Sarrazins ablehne. Sarrazins Buch verkauft sich in einem wahnwitzigen Tempo, die Gesamtauflage soll laut Verlag bei 250 000 Exemplaren liegen. Gegenüber der Frankfurter Rundschau wies der Sozialforscher Andreas Zick darauf hin, dass inzwischen jeder zweite Bundesbürger der Aussage Sarrazins zustimme, dass es in Deutschland zu vieler Ausländer gebe. Zick deutete die „massive Zustimmung“ zu der Hetze Sarrazins im Internet als einen „Tabubruch“. In den Online-Kommentaren über Bildungsschwache und sozial Benachteiligte komme offener „Hass zum Ausdruck“. Die 18 Prozent, die in der Emind-Studie genannt werden, dürften eher die Untergrenze des faschistischen Wählerpotenzials darstellen. Einer mit Rückendeckung eines Teils der veröffentlichten Meinung antretenden Nazipartei dürften in Deutschland zwischen 33 und 45 Prozent der Wählerstimmen sicher sein. Emnid-Chef Klaus-Peter Schöppner beschrieb die Motivationslage der potentiellen Sarrazin-Wähler bei Vorstellung der jüngsten Umfrage folgendermaßen: „Für sie ist Sarrazin jemand, der endlich ausspricht, was viele denken.“ Noch alarmierender sind die vielen Internet-Abstimmungen, wo bis zu drei Viertel der Teilnehmer sich für Sarrazin aussprechen. Die Existenz dieses enormen faschistischen Potentials ist bereits bei etlichen Studien konstatiert worden, und hierbei handelt es sich um kein „neues“ Phänomen, sondern um eine Konstante des politischen Spektrums der BRD. Gefährlich ist die derzeitige Entwicklung vor allem deshalb, weil dieses diffuse Potential aufgrund der Krise an Breite gewinnt und nun eine konkrete organisatorische Ausformung in einer erfolgreichen Partei finden könnte.
Es ist, als ob ein Damm gebrochen sei und nun sich eine braune Flut über die Republik ergießt. Endlich will der deutsche Mann ohne Rücksicht auf „politisch korrekte Tabus“ diejenigen Menschen offen hassen und verachten dürfen, die bereits marginalisiert, ausgeschlossen und pauperisiert wurden – ganz wie es Sarrazin vormacht. Folglich schwappt nun auch eine an Intensität zunehmende Welle der Empörung durch ganz Deutschland. Doch ist es keine Empörung eines angeblichen „politisch-korrekten“ Mainstreams über den „mutigen Tabubrecher Sarrazin“, wie von der Bildzeitung behauptet. Wo es die Online- oder Zeitungsredaktionen zulassen, quellen die Internetforen oder Leserbriefspalten über mit wütenden und hasserfüllten Kommentaren, die Sarrazin in Schutz nehmen, dessen Aussagen zumindest für diskussionswürdig halten, das „Meinungskartell“ seiner Kritiker verdammen und sich mit dem ehemaligen Bundesbanker solidarisieren. Diese braune Welle erinnert an die aufgehetzte Stimmung zu Beginn der neunziger Jahre, als eine massenmedial befeuerte Ausländerhetze die faktische Abschaffung des Asylrechts vorbereitete und Dutzende Menschen bei faschistischen Übergriffen und Brandanschlägen zu Tode kamen.

Die Verlogenheit

Selbstverständlich ist diese sich formierende Bewegung, die für sich in Anspruch nimmt, „Klartext zu reden“ und „unbequeme Wahrheiten“ auszusprechen, im hohen Maße verlogen und irrational. Schlicht pervers ist der von Sarrazin und seiner Gefolgschaft zumeist an Migranten aus der Türkei oder dem arabischen Raum gerichtete Vorwurf, sich „nicht integrieren“ zu wollen und folglich in „Parallelgesellschaften“ zu verharren. Hier wird so getan, als ob ein permanentes, freundschaftliches Werben auf eisiges Desinteresse seitens der Immigranten stoßen würde. Die ausgestreckte Hand des Deutschen werde vom islamischen „Integrationsverweigerer“ ausgeschlagen. So argumentierte tatsächlich der Sarrazin-Fan Matthias Matussek in seinem Artikel „Gegenwut“ auf Spiegel-Online, in dem der Anhängerschaft des rassistischen Bundesbankers eine berechtigte „Wut“ auf die integrationsresistenten Moslems zusprach, da die Deutschen es „satt haben, für ihre Angebote an Eingliederungshilfen beschimpft und ausgelacht zu werden.“

Jeder Migrant, der in Deutschland an seinem Erscheinungsbild oder an seinem Akzent als „Ausländer“ erkannt wird, kann von unzähligen Akten des alltäglichen Rassismus berichten, von großen und kleinen Demütigungen und Erniedrigungen, die ihm von Behörden, Polizei oder ganz gewöhnlichen Deutschen zugefügt werden. Es ist diese an einen Konsens heranreichende Xenophobie in Deutschland, die eine „Integration“ der Migranten in diesem Land verhindert hat – und nicht die Unwilligkeit der Einwanderer und deren Nachkommen. Die viel beschworene „Integration“ hat einen materiellen Kern, sie impliziert Chancengleichheit und Gleichberechtigung. Und es ist a gerade das deutsche Ausländerrecht, dass eben diese rechtliche Gleichstellung verhindert. Wie es um die Chancengleichheit im plötzlich so integrationswütig gewordenen Deutschland bestellt ist, offenbarte eine im Oktober 2009 publizierte OECD-Studie, die zu der Schlussfolgerung kam, dass „selbst bei gleichem Bildungsniveau Kinder von Migranten in Deutschland schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben“ als ihre Altersgenossen mit deutschen Nachnahmen. Es ist keinesfalls so, dass die islamischen Migranten und deren Nachkommen aus Integrationsunwilligkeit heraus weiterhin nur Klos schrubben und Döner kredenzen wollen.

Die oftmals mit zunehmender Hinwendung an die eigene kulturelle Identität – wie etwa den Islam - einhergehenden Abschottungstendenzen vieler Einwanderer-Communities resultieren gerade aus dem vielfach erfahrenen Alltagsrassismus, der sich in tatsächlich gegebener Diskriminierung und beruflicher Benachteiligung äußert. Das Verharren im eigenen Kulturkreis, wie auch die Bildung von Rackets in vielen Ghettos, bildet eine Überlebensstrategie der marginalisierten Migranten, denen die Integration in die krisengeschüttelte deutsche Arbeitsgesellschaft verweigert wird. Selbstverständlich geht es den Rassisten nicht um „Integration“, sondern um die Legitimierung der Parole „Ausländer Raus!“. Die FAZ fasste diese Logik folgendermaßen zusammen: „Sehr viele Bürger sehen in den Befunden des „Zahlenmenschen“ Sarrazin bestätigt, was sie im Alltag beobachten. Mit wachsender Wut fragen sie sich, warum so viele Muslime, die sich der Integration verweigern, in Deutschland sind.“

Der Faschismus des 21. Jahrhunderts

Ebenso penetrant wie abwegig ist die schon fast weinerliche Berufung auf die „Meinungsfreiheit“, mit der die Verbreitung rassistischer Positionen legitimiert wird. Die protofaschistischen „Klartext-Redner“, die sich im titanischen Schicksalskampf gegen eine halluzinierte Allmacht von politisch korrekten „Gutmenschen“ sehen, greifen hierbei auf ein Argumentationsmuster der politischen Korrektheit zurück, das ursprünglich vor allem von den innigst gehassten „Gutmenschen“ etabliert wurde. Natürlich streitet diese Avantgarde der Barbarei nicht für die Meinungsfreiheit. Niemals wurde irgendeinem dieser Rassisten der Mund verboten. Die rechten teutonischen Recken empören sich über jedewede Kritik an ihren xenophoben Äußerungen, da sie keinerlei Toleranz gegenüber anderen Meinungen aufbringen können. Jedes kritische Wort über Sarrazin wird als der Versuch interpretiert, ein weiteres Tabu durch politisch-korrekten Meinungsterror zu errichten. Der deutsche Rassist sieht Meinungsfreiheit erst dann gegeben, wenn nur noch seine Meinung vernommen werden kann. Es fehlt nur noch, dass der neue deutsche Faschismus des 21. Jahrhunderts sich als Antifaschismus ausgibt.

Zu den bereits jetzt sich abzeichnenden Modernisierungstendenzen dieser klar rechtsextremen Ideologie gehört auch eine strikte Abgrenzung gegenüber dem deutschen Nationalsozialismus, wie er beispielsweise von der NPD propagiert wird. Die Anhängerschaft Sarrazins kommt tatsächlich in der Maske des Demokraten daher, der sich besorgt über politisch korrekte „Denkverbote“ gibt und „Unbequeme Wahrheiten“ auszusprechen vorgibt, die unter Bezugnahme auf Halbwahrheiten und einseitig ausgewertetes statistisches Material auch noch mit wissenschaftlichem Anspruch „bewiesen“ werden sollen. Diese rechtsextreme Ideologie erfuhr einen umfassenden „Rationalisierungsprozess“ im Sinne der kapitalistischen Verwertungslogik. Es findet eine kalte Abwägung statt, welche gesellschaftlichen Gruppen noch einen ökonomischen Nutzen aufweisen, und welche als bloßer Kostenfaktor fungieren. Diese Elemente - die auch im klassischen Nationalsozialismus vorhanden waren – dominieren bei Sarrazin, während faschistische Ästhetik oder explizit nationalsozialistisches Vokabular kaum zu finden sind. Schließlich praktiziert Sarrazin einen philosemitischen „positiven Rassismus“ gegenüber den Juden, denen er eine überdurchschnittliche Intelligenz attestiert. Dies tut er wohl aus taktischen Gründen, um eine Distanz zum ordinären deutschen Nationalsozialismus zu simulieren. Dennoch bleibt dieses ideologische Konstrukt weiterhin rassistisch, da auch hier die Juden als eine von gemeinsamen Merkmalen gekennzeichnete Rasse dargestellt werden. Zudem haben ja auch die Nazis dem „jüdischen Untermenschen“ ein großes Maß an Schlauheit, Hinterlist und Verschlagenheit attestiert. In gewisser Weise bildet der Philosemitismus Sarrazins nur einen anderen Aggregatzustand des Antisemitismus, da diese rassistisch motivierte Bewunderung für „die schlauen Juden“ sehr schnell in Hass gegen den „hinterlistigen Juden“ umschlagen kann.

Politische Rechte im Aufwind

Dieser braune Dammbruch - die von breiten Bevölkerungsschichten geteilte, offene und öffentliche Hetze gegen Migranten - bildet ein zentrales Moment des ersten großen Sieges, den Sarrazin, die Bildzeitung und Co. erringen konnten. Inzwischen verschaffte der für seinen offenen Hass gegen Arbeitslose berüchtigte ehemalige Berliner Finanzsenator auch den reaktionärsten Kreisen in der CDU und SPD wieder Oberwasser, die sogleich den Migranten in Deutschland eine erneute Migrationsdebatte und Sanktionen bei „Integrationsverweigerung“ androhen. So sieht sich die SPD-Führung einem wahren Sturm der Entrüstung von Teilen ihrer Basis ausgesetzt, weil sie Sarrazin aus der Partei ausschließen will. 90 Prozent der Zuschriften, mit denen SPD-Chef Sigmar Gabriel in dieser Frage überschwemmt werde, würden Sarrazin recht geben, meldete Spiegel-Online. Mensch hätte sich ähnliche Proteste bei der Einführung der Hartz-IV-Gesetzte gewünscht. Wie sehr diese Debatte auch die rechte Strömung in der CDU beflügelt und zur Offensive treibt, machte jüngst Erika Steinbach, die Vorsitzende des „Bundes der Vertriebenen“, auf einer Klausurtagung der CDU deutlich, als sie de facto Polen die Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gab, während sie eben dies bestritt: „Und ich kann es auch leider nicht ändern, dass Polen bereits im März 1939 mobil gemacht hat.“ Eine faschistische Sarrazin-Partei könne mit Sicherheit auf Zulauf aus den reaktionären und chauvinistischen Flügeln der CDU wie auch der SPD zählen.

Faschismus als „Extremismus der Mitte“

Zu diesem Erfolg Sarrazins trug aber noch ein kaum beachteter Umstand bei, der auch die bürgerliche Kritik diesem so zahnlos und ohnmächtig werden ließ: Sarrazins Anschauungen entspringen der herrschenden kapitalistischen Ideologie, sie bilden eine – durch die Krisendynamik ausgelöste – irrationale Zuspitzung der Wertvorstellungen, Anschauungen und Ideale, die eigentlich in den nun beständig erodierenden „Mittelschichten“ der kapitalistischen Gesellschaftsformation zu finden sind. Teils unfähig, teils unwillig, eine Alternative zur kapitalistischen Dauerkrise zu denken, kann der Sarrazin-Anhänger einen Krisenausweg nur in der gnadenlos gesteigerten Unterordnung der gesamten Gesellschaft unter das Regime der stockenden Kapitalakkumulation suchen. Die Krise des bestehenden Systems soll in dieser Ideologie also durch eine „Radikalisierung“ dieses Systems überwunden werden. Sarrazins Faschismus ist somit ein „Extremismus der Mitte“, bei dem liberal-kapitalistische ideologische Versatzstücke ins weltanschauliche Extrem getrieben werden.

Dieses innige ideologische Band zwischen Sarrazin und seinen bürgerlichen Kritikern wird besonders gut überall dort sichtbar, wo die Letzteren glauben, diesen auf seinem eigenen Feld, mittels der genauen Untersuchung empirischer Daten, grundsätzlich kritisieren und widerlegen zu können. So bemühen sich etliche Kommentatoren in „Hintergrundanalysen“, das statistische Material in Frage zu stellen, mit dem Sarrazin insbesondere die Einwanderer aus der Türkei oder dem arabischen Raum als eine finanzielle und soziale „Belastung“ für die deutsche Volkswirtschaft zu diffamieren versucht. Da wird dann vorgerechnet, dass Türken eigentlich gar nicht so „bildungsfern“ sind, wie von Sarrazin behauptet, dass andere Einwandergruppen ähnlich oft auf soziale Transferleistungen angewiesen sind wie Muslime, dass gerade Ausländer überdurchschnittlich oft Existenzgründungen in Deutschland wagen; oder es wird darauf verwiesen, dass in anderen EU-Ländern die Arbeitslosenquote bei Ausländern höher sei als in der BRD.

Arbeitsfetisch und Verwertungslogik

„Kosten muslimische Einwanderer mehr, als sie dem deutschen Staat nützen?“, frage in dieser Logik beispielsweise Spiegel-Online den Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Klaus Zimmermann - der auch wahrheitsgemäß antwortete, dass dies nicht der Fall sei: „ Wir haben einmal berechnet, dass bei den Ausländern in Deutschland das Gegenteil der Fall ist. Um die Zahlungsfähigkeit der öffentlichen Haushalte zu gewährleisten, müsste jeder Deutsche rund hundert Euro im Jahr mehr zahlen, wenn es die ansässige ausländische Bevölkerung nicht gäbe.“ Dennoch gab derselbe Zimmermann gegenüber dem Tagesspiegel zu protokoll, dass Sarrazins Äußerungen „einen berechtigten Kern“ hätten, da dieser auf - so wörtlich - „Fehler bei der Selektion“ und der Integration von Ausländern hinweisen würde. Es darf also wieder selektiert werden.

Unausgesprochen und unreflektiert teilen Sarrazin und seine bürgerlichen Kritiker die gleiche Logik: Menschen müssen „nützlich“ sein, um eine Daseinsberechtigung zu haben. Alle liberalen Kritiker Sarrazins, die sich ernsthaft darauf einlassen, was dieser auf über 400 Buchseiten von einem Ghostwriter zusammenschreiben ließ, teilen diese Grundannahme – sie sind nur der Auffassung, dass dieser das empirische Material „falsch“ ausgewertet habe und Muslime dem „deutschen Staat“ mehr Nutzen bringen als Kosten verursachen. Der menschlichen Existenz wird nur dann eine Existenzberechtigung zugesprochen, wenn diese einen „Nutzen“ hat, wobei dieser Nutzen durch Lohnarbeit zu erbringen ist. Sarrazin treibt auch hierbei, im Kern seiner Anschauungen, nur die herrschende liberale Ideologie ins Extrem. Zum einen gibt sich Sarrazin folglich als der leistungsorientierte Neoliberale, der Integration von Ausländern durch deren „Arbeit und Leistung“ erreicht sehen will, der die Deutschen auffordert, Stolz auf „den Fleiß und die Tüchtigkeit“ zu empfinden, die wohl in ihren Genen irgendwo codiert sein müssen. „Bei Leistung gibt es keinen Rabatt“, zitierte der Tagesspiegel den medial omnipräsenten Sarrazin. Im Endeffekt schwingt sich der Bundesbanker in die Rolle des ideellen Gesamtvorsitzenden des Personalrats der Deutschland-AG auf, wobei er bestimmten Bevölkerungsgruppen und Migrantengemeinschaften aufgrund einer Kosten-Nutzen-Analyse das Bleiberecht – und implizit auch das Existenzrecht - abspricht. Der Mensch, die gesamte Gesellschaft – ja das Dasein als solches – verkümmern in dieser Ideologie zu bloßen Voraussetzungen der kapitalistischen Verwertungslogik. Alles und Alle müssen unter Beweis stellen, dass sie „nützlich“ sind. Ein Leben jenseits des fetischistischen Götzendienstes an der zu einer ewigen Konstante menschlicher Existenz naturalisierten Kapitalakkumulation scheint so nicht mehr denkbar – es wird als widernatürlich und parasitär verteufelt.

Das ist spätestens seit Einführung der Hartz-IV-Reformen integraler Teil der staatlichen Repressionspolitik gegenüber den aus der Kapitalverwertung ausgestoßenen Krisenverlierern. Zwangsarbeit oder Hungertod – vor diese Alternative stellen bereits die gültigen Arbeitsgesetze (in orwellscher Tradition als Sozialrecht bezeichnet) unser „Demokratie“ alle „unnützen“ Arbeitslosen, die mit dem totalen Entzug jeglicher Unterstützung bedroht werden, falls sie sich der Tretmühle der ohnehin prekären Kapitalverwertung zu entziehen versuchen. Es sind in Deutschland schon Menschen den Hungertod gestorben, weil ihnen aufgrund von „Arbeitsverweigerung“ das Arbeitslosengeld II gestrichen wurde. Je offensichtlicher die Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft sich abzeichnet, desto terroristischer die Maßnahmen, die gegen die „Überflüssigen“ zu Anwendung gelangen. Die Bild-Zeitung tut aber so, als ob diese rechtliche Tatsache einer Drohung mit dem Hungertod, mit der alle Marginalisierten zur Zwangsarbeit genötigt werden können, eine mit einem politisch-korrekten Tabu belegte Meinung darstellt, die nun mutig offen ausgesprochen werden müsse: „Wer Arbeit ablehnt, verdient keine Stütze“, ließ das Boulevardblatt am 04.09.2010 neben etlichen ausländerfeindlichen Parolen auf seine Titelseite drucken und bezeichnete dieses als einen „Kampf um Meinungsfreiheit.“

Der konformistische Aufstand

Diese innere Wesensgleichheit zwischen der repressiven Arbeitshausideologie Sarrazins und dem etablierten öffentlichen Arbeitsdiskurs bildet die soziale Grundlage für eine Rebellion der Konformisten, die in Reaktion auf die Krise einen Exzess der bestehenden Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse herbeisehnen. Es sind schlicht Untertanen, die sich einen festeren Würgegriff der „unsichtbaren Hand des Marktes“, wie der eisernen Faust der staatlichen Repressionsorgane wünschen. Und eben dies macht die „faschistische Option“ auch für viele Mitglieder der Mittelscheich, ja sogar für marginalisierte Deutsche, so verführerisch: Endlich kann der deutsche Mann mit publizistischem Rückenwind einflussreicher Massenmedien, gemeinsam mit „Führungspersönlichkeiten“ wie einem Sarrazin und unter Beibehaltung und Zuspitzung der eigenen ideologischen Verblendung gegen die Schwächsten der Gesellschaft hetzen und gegen diese vorgehen. Sarrazin begibt sich folglich mit seiner Anhängerschaft aus den Mittelschichten - die ohnehin einem beständigen sozialen Erosionsprozess ausgesetzt ist - auf die Suche nach den „Schmarotzern“, die sich der zum Fetisch erhobenen Lohnarbeit „verweigern“ würden, und die für die sozialen Verwerfungen in der Gesellschaft verantwortlich gemacht werden. Die blinde, ohnmächtige und sehr reale „Wut“ der verängstigen Mittelschichten, denen die wahren krisenbedingten Ursachen ihres sozialen Niedergangs verborgen bleiben, findet in den Muslimen und allgemeiner in den „Schmarotzern“ einfache Hassobjekte. Dieses Amok laufende Leistungsdenken ist bereits dem historischen „Nationalsozialismus“ eigen gewesen, der ja ebenfalls bei seinem Kampf gegen „lebensunwertes Leben“ all jene Menschen zu vernichten trachtete, die eben keine Leistung bringen konnten oder wollten – wie etwa Behinderte oder „Asoziale“.

Nationalsozialistische Ideologie

Der primitive Rassismus und Biologismus, die nun wirklich ein genuin „nationalsozialistisches“ Element in den Anschauungen Sarrazins bilden, scheint im Widerspruch zu dessen Leistungskult zu stehen. Ausländer aus Afrika und dem arabischen Raum könnten sich Sarrazin zufolge noch so anstrengen, sie seinen „uns Europäern“ halt genetisch unterlegen, behauptet dieser in seinem Machwerk: „So spielen bei Migranten aus dem Nahen Osten auch genetische Belastungen – bedingt durch die dort übliche Heirat zwischen Verwandten – eine erhebliche Rolle und sorgen für einen überdurchschnittlich hohen Anteil an verschiedenen Erbkrankheiten.“ Weitere Einblicke in sein gefestigtes rassistisches Weltbild verschaffte Sarrazin bekanntlich Welt-Journalisten bei einem Interview, als er auf die Frage „Gibt es auch eine genetische Identität?“ antwortete: „Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen, Basken haben bestimmte Gene.“ Sarrazins Interviewpartner weiter: „Auf die überraschte Nachfrage, ob wir, die aus vier Urdeutschen bestehende Gesprächsrunde, andere Gene hätten als die Menschen im türkischen Café, bekräftigte Sarrazin seine Aussagen mit Verweisen auf den Genpool von Briten und Iren.“ In seinem Machwerk doziert Sarrazin auch über den „Volkscharakter“ der Deutschen und über die „Fäulnisprozesse“, denen der deutsche Volkskörper in letzter Zeit ausgesetzt sei. Solche Anschauungen, die aus genetischen Merkmalen abgeleitete Identitäten halluzinieren, die Muslime als genetisch minderwertig diffamieren, können nicht anders als faschistisch bezeichnet werden. Sarrazin ist ein verkappter Nazi, ein Faschist in Schlips und Kragen. Jede andere, „mildere“ Bezeichnung - wie Provokateur, Tabubrecher, Rechtspopulist - grenzt an Apologetik.

So wie dessen genetische Disposition „den Araber“ laut Sarrazin zu einer unproduktiven Belastung für die deutsche Leistungsgemeinschaft mache, so hätten auch die Deutschen Unterschichten sich ihre Marginalisierung selbst zuzuschreiben – auch hier trügen die „schlechten“ Gene oder „Erbanlagen“ die Schuld an der Misere. Die prekarisierten Niedriglohnempfänger und die auf Hungerdiät gesetzten Arbeitslosen seien aufgrund genetischer Mängel nicht in der Lage, Karriere zu machen. Umgekehrt zeichne die Funktionselite Deutschlands - und damit Sarrazin selbst – ein überdurchschnittlich hoher Intelligenzquotient aus. Intelligenz sei dem sarrazinischen Biologismus zufolge vererbbar, weshalb die Nachfahren der Unterschichtler ebenfalls dumm bleiben würden.

Ihre Amalgamierung erfahren der faschistische Biologismus/Rassismus und die neoliberale Leistungsideologie im Sozialdarwinismus Sarrazins, der mit konkreten Vorschlägen zur sozialen Eugenik einhergeht. Der bundesrepublikanische Sozialstaat habe die natürliche Auslese der Schwächeren, den sozialdarwinistischen „Survival of the Fittest“ in der deutschen Population unmöglich gemacht, weshalb nun die Unterschichten und die Muslime – die, da dümmer, eine höhere Geburtenrate aufweisen sollen – sich wie die Karnickel vermehrten, während die klugen, leistungstragenden Schichten dieser Republik kaum noch die Welt mit ihrem Elitennachwuchs beglücken würden. Die Schlussfolgerung Sarrazins aus diesem biologistischen Delirium: Deutschland verblödet, da der Intelligenzdurchschnitt der Bevölkerung im Sinken begriffen sei. Sarrazin formuliert das folgendermaßen: „Das Muster des generativen Verhaltens in Deutschland seit Mitte der sechziger Jahre ist nicht nur keine Darwinsche, natürliche Zuchtwahl im Sinne von ,survival of the fittest‘, sondern eine kulturell bedingte, vom Menschen selbst gesteuerte negative Selektion, die den einzigen nachwachsenden Rohstoff, den Deutschland hat, nämlich Intelligenz, relativ und absolut in hohem Tempo vermindert.“ Die Lösung des Sozialdarwinisten Sarrazin: Der Staat müsse nun die Selektion vornehmen, indem den Habenichtsen die „Anreize“ zum Kinderkriegen - also das Kindergeld – entzogen, und die Leistungsträger durch weitere Finanzzuwendungen zur vermehrter Gebärtätigkeit animiert werden sollten. „Mehr Kinder von den Klugen, bevor es zu spät ist,“ lautet die Devise des Faschisten. Hier folgt Sarrazin einem klassisch nationalistischen Argumentationsmuster. Selbstverständlich waren auch die Nazis in Sorge darüber, dass die als „Asoziale“ bezeichneten Unterschichten der Volksgemeinschaft sich zu stark vermehrten. Die Schlussfolgerung der NSDAP, also die Auslöschung der „Asozialen“ im Konzentrationslagersystem, die mit der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ 1938 vom NS-Terrorapparat initiiert wurde, will Sarrazin aber (noch?) nicht ziehen.

Naturalisierung des Kapitalismus

Die scheinbar anachronistischen, genuin „nationalsozialistischen“ Elemente in Sarrazins Ideologie - wie Rassismus, Biologismus und Sozialdarwinismus – zeitigen einen entscheidenden Effekt, der eine enorme Suggestivkraft entwickelt: Sie naturalisieren den Kapitalismus. Die kapitalistische Gesellschaft in ihrer nationalstaatlichen Ausformung erscheint als eine „naturgemäße“, dem biologisch und rassisch definierten Wesen des Menschen entsprechende Organisationsform. Das „Survival auf the Fittest“ des sarrazinischen Sozialdarwinismus spiegelt kaum verhüllt den gnadenlosen Konkurrenzkampf Aller gegen Alle, der das Dasein im Kapitalismus prägt. Die Industrialisierung liegt in Deutschland gerade mal 150 Jahre zurück, und dennoch glauben die in geschichtsloser Verblendung befangenen Anhänger Sarrazins, dass der kapitalistische Konkurrenzkampf unter Individuen zur menschlichen „Natur“ zählt, obwohl hunderttausende von Jahren menschlicher Entwicklung dieser sozialdarwinistischen Ideologie widersprechen. Noch absurder ist die Naturalisierung der sozialen Verwerfungen in der BRD, die ja ebenfalls als eine „natürliche“ Folge unterschiedlicher Intelligenz halluziniert wird. Bei der Ausformung einer breiten Unterschicht in der BRD handelt es sich um ein historisch relativ junges Phänomen, das eigentlich erst nach Durchsetzung der Hartz-IV-Gesetze an Breite gewann. Offensichtlich reicht den „Sarrazinisten“ aber diese kurze Zeitspanne, um diese Verelendungspolitik zu einem „biologischen“, auf minderwertige Erbanlagen zurückzuführenden Prozess zu ideologisieren. Dabei wird die hierarchische Struktur der Gesellschaft, wie auch die zunehmende Polarisierng zwischen Arm und Reich, zu einem naturgemäßen Ausdruck der biologistisch determinierten Ungleichheit zwischen den Menschen. Es findet eine Biologisierung und Naturalisierung sozialer Verwerfung und Klassenschranken statt. Der Kapitalismus ist in dem Bewusstsein der Sarrazin-Anhängerschaft zu einer bloßen Naturgegebenheit sedimentiert, die nicht mehr infrage gestellt werden kann.

Schuld an der Störung dieses natürlichen kapitalistischen Gleichgewichts der Ungleichheit sei Sarrazin zufolge der Sozialstaat, der die Selektion der Dummen, Schwachen und Faulen verhindere. Die genetische Minderwertigkeit von bestimmten Ausländergruppen und Unterschichtlern wird als Krisenursache benannt, die kapitalistische Krisendynamik wird so zu einer Eigenschaft sozialer Gruppen. In der „sozialen Hängematte“ hätten sich zu viele „Schmarotzer“ gemütlich gemacht, die ihrer minderwertigen genetischen Disposition nach längst dem Dschungelgesetz des Marktes zum Opfer gefallen wären – so ließe sich diese implizite Vernichtungslogik zusammenfassen. Insbesondere gegen „muslimische Migranten“ hetzt Sarrazin, da diese angeblich nicht an dem „eigenen wirtschaftlichen Erfolg“ interessiert wären, sondern an der „Absicherung und Alimentierung durch den Sozialstaat“. Der Sozialstaat ist in dieser Anschauung das „widernatürliche“ Element, dass die natürliche Selektion dieser „unnützen Mitesser“ am Markt verhindert habe. Mir der Biologisierung der dem Kapitalismus eigenen Strukturen wird übrigens auch der sattsam bekannte Sachzwangdiskurs irrational zugespitzt, der uns seit Jahren gebetsmühlenhaft einzubläuen versuchte, dass es keine Alternative zu dem durchgesetzten Sozialabbau gebe, dessen verehrende soziale Folgen uns nun von Sarrazin - der eigentlich aufgrund seiner besonders rücksichtslosen Sozialkahlschlagspolitik als Berliner Finanzsenator mit dem Bundesbankposten belohnt wurde - als Auswirkungen einer „falschen“ und „negativen“ sozialstaatlich verzerrten Selektion verkauft werden.

Diese Naturalisierung der ausartenden Barbarei im krisengeschüttelten Kapitalismus lässt auch den Hass vieler Sarrazin-Anhänger gegen die „politisch korrekten Gutmenschen“ hochkochen, wie er sich zehntausendfach in Internetforen oder Leserbriefspalten bahn bricht. Das Verhalten von Menschen, die „Gutes wollen“ und hierfür kämpfen, die also ihr Leben nicht entlang der perversen Imperative eines sozialdarwinistisch verbrämten Konkurrenzkampfes ausrichten, wird im Endeffekt als widernatürlich begriffen. Dies ist der Hass des wutschäumenden Konkurrenzsubjets, das keine Alternative zum kapitalistischen Krieg Aller gegen Alle erkennen kann und an dessen krisenhafter Eskalation irre - und äußerst gemeingefährlich - zu werden droht. Der hauchdünne Lack aller nun als „politische Korrektheit“ verachteten zivilisatorischen Errungenschaften, der der kapitalistischen Mehrwertmaschine einen demokratischen Anstich verlieh, blättert bei jeder Krisenerschütterung immer weiter ab.

Sarrazin und die Krise

Ohne Krise gäbe es Sarrazin als politisches Phänomen nicht. Sarrazin verleiht all den dumpfen Krisenängsten Ausdruck, die Deutschlands penibel gepflegte Reihenhaussiedlungen erfasst haben. In ihrem Kern handelt es sich als um eine Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, die durch die Dritte Industrielle Revolution in Mikroelektronik und Informationstechnologien ausgelöst wurde. Letzten Endes ist der Kapitalismus schlicht zu produktiv für sich selbst geworden. Dieses System stößt an eine „innere Schranke“ (Robert Kurz) seiner Entwicklung. Die immer schneller um sich greifende Rationalisierung und Automatisierung führt dazu, dass immer mehr Waren in immer kürzerer Zeit durch immer weniger Arbeitskräfte hergestellt werden können. Neue Industriezweige wie die Mikroelektronik und die Informationstechnik beschleunigten diese Tendenz noch weiter. Diese neuen Technologien schufen weitaus weniger Arbeitsplätze, als durch deren gesamtwirtschaftliche Anwendung wegrationalisiert wurden.

Die kapitalistischen Volkswirtschaften entwickelten sich folglich in zwei verschiedene Richtungen, um dieser systemischen Überproduktionskrise zu begegnen: Sie verschuldeten sich, um eine Defizitkonjunktur auszubilden, wie Griechenland, Spanien oder die USA. Oder sie versuchen, die Widersprüche der spätkapitalistischen Produktionsweise zu „exportieren“, wie es Deutschland, China (gegenüber den USA), Südkorea oder Japan machen. Die Absurdität der um sich greifenden Ausländerfeindlichkeit in Deutschland resultiert ja gerade aus der simplen Tatsache, dass diese in einem Land gedeiht, dessen dominante Exportindustrie in besonders hohem Maße auf Auslandsmärkte angewiesen ist.

Die aufgrund dieser zunehmenden kapitalistischen Krisendynamik aus der Kapitalverwertung herausgefallenen, „überflüssigen“ Menschen werden für die hieraus resultierenden, sozialen Desintegrationserscheinungen verantwortlich gemacht. Die bloße Existenz dieser auf soziale Transferleistungen angewiesenen Menschen wird so zum Problem, zur Ursache der gegenwärtigen Krisenerscheinungen erklärt. Der derzeitige, globale Krisenprozess des Kapitalismus wir so ideologisch in dessen Opfern personifiziert und verdinglicht. Die aus dem Prozess der Kapitalakkumulation herausgeschleuderten Menschen wurden in der öffentlichen Diskussion längst zu Objekten degradiert. Hierin liegt das implizit mitschwingende, massenmörderische Potential dieser derzeit an Kontur gewinnenden Ideologie. Und selbstverständlich trifft diese Krise der Arbeitsgesellschaft zuerst die Arbeitsmigranten, die ja in die BRD angeworben wurden, um die einfachen Dreckarbeiten zu erledigen, die während des Booms der 50er und 60er Jahre kaum ein Deutscher mehr verrichten wollte. Es sind aber gerade diese einfachen Tätigkeitsfelder, die in den letzten Dekaden von den Rationalisierungsprozessen besonders stark erfasst wurden. Jetzt, da die billigen Arbeitskräfte aus der Türkei nicht mehr gebraucht werden, erklärt ein Sarrazin diese Muslime für genetisch minderwertig und leitsungsunwillig.

So gesehen ist die rassistisch und biologistisch konnotierte Hetze gegen „Leistungsverweigerer“ und (vor allem muslimische) „Ausländer“ innerhalb der kapitalistischen Krisenlogik nur folgerichtig. Die „überflüssigen“ Menschen, der „menschliche Abfall“, den die ins Stocken geratene Kapitalverwertung ausspeit, muss auf die eine oder andere Art beseitigt werden. Hierin liegt das wahre Ausmaß dessen, was Sarrazin bereits erreich hat: Er hat faschistische (End-)Lösungsoptionen der gegenwärtigen Krise wieder diskutabel gemacht. Mehr denn je muss somit konsequenter Antifaschismus diese Kausalitäten zwischen Krisenprozess und Faschismus thematisieren und die krisengeschüttelte kapitalistische Gesellschaftsformation radikal infrage stellen. Mehr den je gilt folglich: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, der sollte vom Faschismus schweigen.“ (Max Horkheimer)


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