Ich überlege mir mittlerweile ernsthaft, ob ich mir "Deutschland schafft sich ab" kaufen soll. Ja, wirklich, ich habe zumindest erstmal nachgesehen, wann es überhaupt rauskommt: Gestern.
Es ist faszinierend, was für eine Debatte ein Werk hierzulande entfachen konnte, das kein Mensch gelesen hat. Es ist vor allem faszinierend, wie oft und in wievielen Ausführungen ich darüber informiert wurde, hier wäre jemand "mutig" und würde "unangenehme Wahrheiten" aussprechen- oder natürlich: Hier ist jemand rassistisch und für irgendjemanden nicht tragbar, die Bundesbank, die SPD, das ganze Land.
Zumindest das wird sich - theoretisch - demnächst ändern, ist das Best-Off lange bekannter Sarrazin-Zitate doch auf einem guten Weg, ein Bestseller zu werden. Es wird dann wohl auch der große Kampf um die Wahrheit enden, den Sarrazin-Jünger z.B. auf amazon.de angezettelt haben, weil sie partout nicht einsehen, dass sie ein Produkt erstmal in Händen halten müssen, bevor sie ihm fünf Sterne verpassen. Noch immer sind aber gut die Hälfte der 91 Leserkritiken aus der Zeit vor dem Erscheinungsdatum, und zumindest eines kann man aus den danach erschienen herauslesen: Scheinbar ist das Buch schnell gelesen, und danach kann man scheinbar auch nichts Genaueres sagen:
Über Missstände spricht er. Über einige seiner Formulierungen kann man sich sicher streiten, im Buch jedenfalls habe ich keinen Satz gefunden, den ich nicht mittragen könnte.
1515 von 1632 Kunden fanden diese Rezension auf amazon.de hilfreich
Dergleichen herausstechende Zahlen findet man dieser Tage, wo immer man sich mit dem Phänomen auseinandersetzt, zum Beispiel auch in den Kommentaren auf Welt.de oder in den entsprechenden Umfragen von bild.de- diese hier hat es mir besonders angetan:
Sollte Thilo Sarrazin die Konsequenzen ziehen und aus der SPD austreten?
# Ja, er hat nach diesen Äußerungen in der SPD nichts mehr verloren
# Nein, auch als Sozialdemokrat muss es erlaubt sein, seine Meinung frei zu äußern(zu finden unter jedem der 1001 Artikel von bild.de zu dem Thema)
88 Prozent derjenigen, die bisher abgestimmt haben (wobei Du mal wieder abstimmen kannst, bis Du schwarz wirst, wenn Du nur die Seite neu lädst) sind übrigens der Meinung, er sollte in einer Partei bleiben, die seine Thesen ablehnt und ihn mit einem Ausschlußverfahren bedroht, da muß man erstmal schlau draus werden.
Es ist aber tatsächlich der jetzt drohende Parteiausschluß, der mich nochmal zu dem Thema zurrückkehren läßt. Ich denke nämlich nicht, dass wir seine ohnehin schon bemerkenswert professionelle PR-Maschine jetzt auch noch um das Drama in mindestens zwei Akten erweitern sollten, das dadurch in Gang gesetzt wird. Was wir stattdessen machen sollten: Wir sollten diese Thesen diskutieren, weil sie sich so herrlich spiegelverkehrt zu allem verhalten, was Sozialdemokratie ausmacht (oder zumindest mal ausgemacht hat).
Wir sollten unsere eigene Analyse vorzeigen, also wie die SPD das Problem der Überalterung der Gesellschaft angehen will, die sich daraus ergebenden Herausforderungen vor allem natürlich für unsere umlagefinanzierten Sozialsysteme, aber auch für den Arbeitsmarkt. Die Rente mit 67 ist keine Antwort darauf, schon weil die Rente nur ein Symptom ist. Leider haben wir, obwohl die Daten, mit denen Sarrazin so kreativ um sich wirft, schon seit 20 Jahren durch die Medien und einige Talkshows geistern, irgendwie die bisherigen Gelegenheiten verpasst, über die Arbeitswelt dieses neuen Jahrtausends zu sprechen.
Wir führen Bildungsdebatten, die älter sind als die meisten Politiker, die sich daran beteiligen. Wir führen eine Debatte über Integration, die ein mieser Ersatz ist für die Sozialstaatsdebatte, die wir eigentlich führen müssten: Über den gesellschaftlichen Konsens, aus dem Sozialstaat beruhen sollte und der klar erkennbaren Funktion, die er haben sollte. Das wäre eigentlich eine klassische integrative Funktion, eigentlich wäre der Sozialstaat eine Institution, die Zusammenhalt schafft und Gemeinsinn fördert. In seiner jetzigen, durch Ineffizienz einerseits und Restriktionen andererseits mutierten Form kann er dieser Aufgabe natürlich nicht nachkommen, tatsächlich ist er vom Kitt der Gesellschaft (wenn er das jemals war) zunehmend zu einem Graben geworden, der quer durch die Gesellschaft läuft.
Er ist vor allem keinerlei Hilfstellung für die Menschen, um ihr Potential auszuschöpfen, und genau hier ist auch der größte Widerspruch zu Sarrazins Thesen, der Grund, aus dem ich nicht verstehe, was er eigentlich noch in der SPD will. Wenn ich der Überzeugung bin, dass ein Mensch quasi durch seine Geburt auf einen genetisch vorgezeichneten Pfad kommt, könnte ich nicht mehr weiter von der SPD entfernt sein. Wenn ich desweiteren auch in Interviews zu erkennen gebe, dass ich unsere Gesellschaft für eine halte , in der jeder entsprechend dieser genetischen Grundlagen da landet , wo er hingehört, in der, zumindest in frei interpretierten Statistiken , jeder den Status erreicht, den ihm seine, nennen wir es mal "angeborene Intelligenz" ermöglicht, dann könnte ich nicht weiter von der SPD entfernt sein. Es ist eine Haltung, die soziale Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft nicht nur leugnet, sondern dem Kapitalismus sogar einen leicht darwinistisch anmutenden Automatismus unterstellt, den man auf die Worte "Success of the most intelligent" zusammenfassen könnte und die wiederrum so weit von sozialdemokratischem Denken entfernt ist, wie es nur irgendwie geht.
Und an der Stelle gibt es tatsächlich Parallelen zur klassischen Rassenlehre, empfiehlt uns der Bundesbänker doch schließlich, um genetisches Kapital zu werben, diese Erkenntnisse einfliessen zu lassen in die Ausgestaltung unserer Familienpolitik, unserer Bildungspolitik und natürlich auch unserer Einwanderungspolitik. Fragen Sie sich mal beizeiten, ob Sie tatsächlich in einem Land leben wollen, das diesen "unangenehmen Wahrheiten" folgt und seine Politik darauf umstellt. Immerhin kann ich Ihnen versichern, dass Sie nach sehr kurzer Zeit keine Angst mehr vor Muslimen hätten. Den Rest können Sie dann in Filmen wie "Gattaca" vorab sehen.
Immerhin ist da das Wetter immer gut.
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