Sarrazin: Im Rücken der Front

Das wird ein schweres Stück Arbeit für die fliegenden Standgerichte der deutschen Sozialdemokratie, die von Parteichef Sigmar Gabriel berufen wurden, den "bekennenden Rassisten" (Migrantenrat Berlin) Thilo Sarrazin aus der stolzen Partei des alten Bebel zu werfen. Das "Christentum ist der Feind der Freiheit und der Zivilisation", hatte der Vordenker der deutschen Sozialdemokratie einstermalen festgelegt, eine Ansicht, die heute unzweifelhaft unvereinbar mit den "Grundpositionen der SPD" ist, wie sie jeder einhalten muss, der sein Parteibuch behalten möchte.
Der Sturm, der nach Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" durch die von sich selbst gelangweilte Republik tobte, ist verrauscht, die Kampfkolonnen von Links und Rechts sind weitergezogen zum nächsten Schlachtplatz - aber die Debatte zur Einordnung dessen, was Sarrazin getan, behauptet und bewirkt hat, beginnt eben erst, wie zwei Beiträge zeigen, die ohne Gabrielschen Schaum vor dem Mund und Merkelscher Instant-Einordnung ohne Lektüre des zu verurteilenden Gegenstandes beschreiben, von welcher Art der "Rassismus" ist, den Sarrazins Feinde im Werk des früheren Bundesbankers ausgemacht haben wollen.
Hans-Ulrich Wehler etwa, seit dem von ihm ausgelösten Historikerstreit als "Deutschlands bedeutendster Sozialhistoriker" gefeiert, bescheinigt dem nunmehrigen freischaffenden Autor in der zuletzt noch höchst nazialarmbereiten "Zeit", dass seine "Problemdiagnose ins Schwarze“ getroffen habe. Die Tatsachen sein genau so, wie Sarrazin sie beschreibe, der ihm entgegenschlagende Protest, so der stramm linke Wissenschaftler, zeigten das "immense Versagen der Politik", deren öffentliches Lamentieren über Sarrazins Ausflüge in die Erbbiologie nur Ablenken sollten von seinen " schwer zu widerlegenden Befunden zur Bilanz der Einwanderung". Nicht zufällig habe die politische Klasse "mit einer geradezu klassischen Diskussionsverweigerung" auf das Buch reagiert: "Bereits im Vorfeld dieser Anstrengung", schreibt Wehler, sei so vehement interveniert worden, "dass im Grunde jede ruhige Diskussion abgewürgt" werden konnte.
Darum wird das Kapitel über soziale Ungleichheit (47 Seiten) nicht von allen Parteien endlich freimütig diskutiert. Warum wird das Kapitel über Bildungspolitik (67 Seiten) nicht erörtert. Darum wird das Kapitel über die demografische Entwicklung (60 Seiten), über die sich Biedenkopf, Miegel, Birg und andere Bevölkerungswissenschaftler seit Jahrzehnten die Finger vergeblich wund schreiben, nicht endlich auf die Diskussionsagenda gesetzt. Obwohl doch gelte, "dass nicht wenige Argumente hieb- und stichfest formuliert und die statistischen Befunde schwer zu widerlegen sind."
Nach dem Eklat um die Leugnung von Unterschichten und nach der realitätsverweigernden Fehlsteuerung der ersten Phase der Sarrazin-Diskussion verdient es die zweite Phase, dass in freier Meinungsäußerung möglichst alle angeschnittenen Probleme mit pragmatischer Liberalität und frischer Aufgeschlossenheit erörtert werden, fordert Wehler, und sein Zunftkollege Erich Weede tut ihm in der FAZ auch sofort den Gefallen. "Den Ernst der Lage erkannt zu haben ist Sarrazins Verdienst", lobt der Soziologe von der Uni Bonn. In seinem Buch habe er Zielkonflikte offengelegt, "denen sich die deutsche Politik nicht stellt - allen voran die langfristige Unvereinbarkeit des existierenden Sozialstaates mit offenen Grenzen für Zuwanderung."
Mit seinem Argument, "dass die Einwanderung von wenig qualifizierten Menschen, die oft keinen Arbeitsplatz finden, Deutschland schadet", habe der Sozialdemokrat "die Gruppe derer, die in den letzten Jahrzehnten bei uns politische Verantwortung tragen, frontal angegriffen".
Daher das Gebrüll vom "Rassisten", daher der Eindruck, es werde ein Mann mundtot gemacht, der nur die Wahrheit sagt, daher der Umstand, dass ein Buch zur Staatsaffäre werden und im Zuge dessen schon nach einem Monat mehr als eine Million Leser finden konnte - so viel wie kein anderes seit sich der beliebte Volksautor Adolf Hitler im Berliner Bunker erschoss.
Sarrazin: Im Rücken der FrontDabei vertrete, analysiert Weede, Sarrazin ausweislich seines Textes "keine Rassenlehre", er sei kein Antisemit und er benötige zur Stützung seiner "kruden Thesen" (Der Spiegel) "keinerlei Annahmen über Vererbung". Nein, denn "die beobachtbare unterschiedliche Humankapitalausstattung der Schichten und deren unterschiedliche Reproduktionsraten reichen völlig aus, um die Verschlechterung der Humankapitalausstattung erwarten zu lassen", schreibt Weede. Auch wenn man die erbliche Komponente der Intelligenz für schwach halte, müsse die höhere Reproduktionsrate der weniger Intelligenten, der weniger gut Ausgebildeten und derjenigen, die auf dem Arbeitsmarkt erfolglos sind, Anlass zu Befürchtungen über die künftige Humankapitalentwicklung in Deutschland sein. Zumindest, so lange es gesellschaftlicher Konsens sei, dass "intelligente und gut ausgebildete Eltern die intellektuelle Entwicklung ihrer Kinder fördern, auch dass im Arbeits- und Berufsleben, unintelligente und schlecht ausgebildete Eltern, die von Transfers statt von Arbeit leben", hingegen nicht "die idealen Erzieher und Vorbilder sind".
Zuspruch kommt auch von Muammar al-Gaddafi, der die Zahlen aus dem neuesten Ausländerbericht der Bundesregierung ohne Erbbiologie und Gentechnik hochgerechnet hat. Europa sei auf dem Weg, islamisiert zu werden, ließ der libysche Dauerrevolutionsführer "Paris Match" wissen. "Europa wird nicht mehr sein, was es heute ist. Es wird nicht mehr christlich sein, sondern muslimisch".
Der alte Traum von August Bebel, dem Christenhasser, der seinen Erben einst mit auf den Weg gegeben hatte, "Sozialist sein, heißt arbeiten für eine Gesellschaftsordnung, in der alle aktiven Kräfte harmonisch verbunden werden und zu aller Nutzen zusammenwirken sollen", ginge endlich in Erfüllung.
Weedes Aufsatz hier
Wehlers Erwägungen dort.
Sarrazin im PPQ-Archiv:
Unblutige Befriedung
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Zirkus Sarrazin in der Stadt
Verfrühstückter Wohlstand
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