Sand - Wolfgang Herrndorf


 So groß die Lust beim Lesen dieses spannenden Afrika-Roadmovies, so groß ist nun die Gefahr, dass der Rezensent beim Rezensieren zu viel verrät und so dem potentiellen Leser die Lust auf diesen herrlich fesselnden Roman nehmen könnte. Was äußerst schade und keinesfalls beabsichtigt wäre. Denn dieses Buch muss man lesen! Natürlich nur, wenn man Aufregung verkraftet und es in Kauf nehmen kann, alle häuslichen oder beruflichen Pflichten für die Dauer der Lektüre zu ignorieren und die einem anvertrauten Kinder verwahrlosen zu lassen. Doch es lohnt sich!Was der mittlerweile sterbenskranke, recht junge Autor Wolfang Herrndorf (der uns im Übrigen auf seinem Blog derzeit an seinen letzten Lebenstagen teilhaben lässt, bevor er nun bald endgültig seinem Gehirntumor erliegen wird) hier abgeliefert hat, ist schon harter Tobak. Gepaart mit sprachlicher Versiertheit und genialen, wenn auch kurzzeitig ein wenig verwirrenden Handlungssträngen und gekrönt von einer bezaubernden „Stimme aus dem Off“. Allein diese, die letzten Kapitel der Erzählung einleitende Einmischung des Schriftstellers reicht als Empfehlung für dieses kostbare Werk. Wobei ich durchaus kurzzeitig darüber nachgedacht habe, von der Lektüre ebendieser 20 letzten Seiten, in denen allerdings auch einige Rätsel gelüftet werden, abzuraten.
Schon kurz nachdem die an einer Amnesie leidende Hauptfigur, über die wir als Leser anfangs genauso wenig erfahren wie sie selbst über sich weiß, in die Geschichte eingeführt wird, fühlt man sich automatisch und zutiefst mit diesem armen Kerl verbunden. Wir fiebern mit ihm, wenn er sich aus seiner ersten Zwangslage zu befreien sucht, wir leiden mit ihm mit, wenn er sich stundenlang eingegraben im Wüstensand vor seinen Verfolgern versteckt, wir freuen uns mit ihm über jede neuerliche und ungeheuerliche Rettung, wir fühlen förmlich seine Schmerzen wenn ihm mit einem Messer die Hand durchstochen wird und wir sind selbst ein wenig verliebt in diese starke schöne Frau, die ihn mehrfach rettet. Helen! Welch leuchtender Stern am Himmel, der da mitten in der Wüste an einer Oase auftaucht. Sie lässt den Halbverdursteten erst in ihren Wagen, dann in ihr Hotel und dort sogar in ihr Bett ein. Wo er allerdings die ganze Zeit über jenseits der von ihr gezogenen imaginären Mittellinie bleibt. Genau so eine starke Frau braucht der seiner Identität durch einen Schlag auf den Kopf beraubte Carl, wie er seit der gemeinsamen Untersuchung seiner Kleidung, deren Herstellerfirma ein „Carl“ im Namen trägt, fortan genannt wird. Helen pflegt ihren Schützling, dem immer wieder neue Wunden zugefügt werden, mehr oder weniger gesund und tut Alles, wirklich Alles, um das Rätsel seiner Vergangenheit mit ihm gemeinsam zu lösen. Was Wunder, dass Carl, insbesondere nach jedem erneuten Entkommen aus größter Gefahr oder des Auftauchens eines kleinen, das Rätsel zu lösen helfenden Puzzleteils, davon träumt, endlich Frieden zu finden und mit dieser wunderbaren Frau gemeinsam ein friedliches Leben fernab dieses verrückten Afrika führen zu dürfen. Ja, auch wenn er es nicht so äußert, so spürt man schnell, dass er nicht nur dankbar ist sondern sehr viel für Helen empfindet: „Es war auch nicht Liebe. Es war irgendwas Schlimmeres.“. Als Carl, diesem wirklich gut aussehenden jungen Mann mit arabischem Einschlag das passiert, wovon die meisten Männer nur träumen, und er von einer (anderen) Frau ganz geradlinig zum Sex in ein Hotel geführt wird, ist er nicht ganz bei der Sache. Um dennoch zu einem gebührenden Ende zu gelangen: „…kniff er die Augen zusammen und versuchte sich vorzustellen, es sei Helen“.
Über das äußerst harte Leben in dieser Region der Erde werden wir immer wieder anhand von brutalen Beispielen ganz beiläufig aufgeklärt. Obwohl wir es wissen und uns irgendwie daran gewöhnt haben, so fühlen wir dann doch bei der Lektüre ab und an einen stechenden Schmerz, wenn uns in verschiedenen Szenen ganz nebenbei aufgezeigt wird, wie wenig hier ein Menschenleben gilt, wie „normal“ es ist, dass viele Kinder nicht nur keine Nahrung sondern auch nicht die geringste Zukunft, ja, noch nicht einmal die Hoffnung auf eine solche haben. Völlig selbstverständlich und überhaupt nicht anklagend, sondern einleuchtend und nachvollziehbar werden die Mechanismen der Korruption erwähnt, genau wie die abstruse Tatsache, dass wir stinkreichen Westler inmitten der Ärmsten dieser Welt, sicherheitshalber durch eine hohe Mauer von diesen getrennt, die „schönsten Tage des Jahres“ verbringen. Wahlweise im weißen Strandsand oder umgeben von tiefschwarzen Huren – gern auch sowohl als auch.
Doch zurück zu Carl und Helen, der Hippi-Kommune, in der 4 Menschen erschossen und aus der ein Koffer voll wertlosem DDR-Geld gestohlen wird, dem jungen Todesschützen, den recht glücklosen Polizisten, alten Wüstenbewohnern, gierigen Gangstern, erfolgreichen aber recht abgefahrenen Schriftstellern, fiesen CIA-Agenten, undurchsichtigen Waffenschiebern, blinden Ziegen, blöden Atomwaffenschmugglern und dem falschen Psychiater, der Carls Amnesie für wenig glaubhaft hält (genau wie Helen, aber das soll unser armer Carl erst viel später am eigenen Leib zu spüren bekommen). Schnell erfährt man, dass man sich täuscht, wenn man denkt, die ganze Jagd habe etwas mit Geld zu tun („Weißt Du wer das ist? Das ist Goethe… Wer ist Goethe? Scheißgoethe ist Scheißostdeutscher. Das ist Scheiß-DDR-Geld“). Nein, es geht hier um Atomspionage, ohne dass es jedoch ganz konkret wird. Ist auch nicht so wichtig. Wenn Carl nicht innerhalb von 72 Stunden dafür sorgt, dass „die Mine“ wieder in den Besitz von Adil Bassir kommt, wird nicht nur er sondern auch seine Frau und sein Kind (welche Frau, welches Kind?) ermordet werden. Stückchenweise. Beachtlich ist, was Carl mit Helen zusammen in der relativ kurzen Zeit über den Begriff „Mine“ herausfindet und was er so alles (Schlimmes) erlebt. Und wie er von Erfolg zu Misserfolg reitet und dabei immer tiefer in die Scheiße gerät. Allerdings wird er, fast wie in einem Märchen, immer dann auf wundersame Weise wieder errettet, wenn man denkt, das ist jetzt aber wirklich eine aussichtslose Situation, aus der es kein Entrinnen gibt. Doch ist dieser Typ eben auch ein harter Kerl, der 30 km über hohe Sanddünen durch die heiße Wüste läuft, ohne Wasser gegen den Durst oder eine Decke gegen die Kälte der Nacht, und dann auch noch auf verzweifelt disziplinierte Weise stundenlang im Sand nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen sucht. Man wünscht sich als mitfiebernder Leser, der normale „Happy ends“ eigentlich verabscheut, so sehr wie selten, dass er Erfolg haben und alles gut ausgehen möge.
Doch unabhängig von der mitreißenden story lohnt sich „Sand“ schon allein wegen solcher Sätze wie der folgenden:
„Polidorio verachtete sie (die Huren) für das, was sie taten, schämte sich für die Dinge, die er mit ihnen trieb, und war zu scheu, das zu verlangen, was er eigentlich wollte.“
„Wie um jede größere Stadt hatte sich um Targat ein Gürtel aus Bidonvilles gelegt, und die Bereitschaft der Verwaltung, die erbärmlichen Hütten hin und wieder mit Bulldozern die Berghänge hinabzuschieben, schien den gleichen Effekt zu haben wie das sorgfältige Beschneiden einer Pflanze“
Wunderbare Schachtelsätze voller tiefsinnigem Humor, gepaart mit treffend pointierten Lebensweisheiten schenkt uns der Autor an mehreren Stellen, ohne dass er uns davon zu viele zumutet oder diese vielleicht unverständlich werden, wie es möglicherweise der Rezensent an der einen oder anderen Stelle seines Blogs schon getan haben mag, was dem Blog-Abbonenten möglicherweise gerade in diesem Augenblick wieder einmal bewusst wird und ein wissendes oder auch leicht gequältes Lächeln auf dessen Lippen zaubert: „Er schnaufte, hustete noch einmal schwer, schaute wie prüfend auf Michelles von der Wüstensonne dunkelbraun, ja fast schwarz gebrannte Haut und lächelte sie dann plötzlich auf so eine unangenehme, aufdringliche Art an, wie sie bei einem Mann seines Alters nicht selten zusammen mit Übergewicht und Haarausfall ein Ergebnis natürlicher Vorgänge zu sein scheint, auf eine Art, die zugleich so sonderbar kindlich und unschuldig wirkte, dass Michelle annahm, er sei sich seines Gesichtsausdruckes oder zumindest der Inkongruenz zwischen seinem aufgedunsenen, gealterten Gesicht und seiner jugendlichen Absichten kaum bewusst.“
Dass der Autor sich an einigen wenigen Stellen selbst zu Wort meldet, gleichzeitig aber selbst erkennt und uns wissen lässt, dass dies eine absolute Ausnahme bleiben muss, macht ihn mir sehr sympathisch. „Vielleicht war es nur einer jener Zufälle, die man in Romanen nicht überstrapazieren sollte und die im richtigen Leben zur Erfindung des Begriffs Schicksal beigetragen haben.“
Ich werde zu gegebener Zeit an dieser Stelle davon berichten, ob er diese Sympathie auch verdient oder ob er sich in seinen vorangegangenen Werken bereits genau der gleichen Methoden bedient hat. Wobei mir hinsichtlich der Beantwortung dieser Frage doch schon ziemlich sicher bin.

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