San Marino

In San Marino war ich die Ausländerin, die die Sprache noch nicht gut beherrschte, ich war die Fremde, die neugierig betrachtet wurde und mit der die anderen anfangs teilweise etwas vorsichtig umgingen. Ich muss dazu sagen, dass Cremona - entgegen den meisten Gebieten in Italien - keine Touristengegend ist. Die Poebene ist eigentlich öde und langweilig, keine Berge, kein Meer, nur eine weite Ebene, auf der viel Agrarwirtschaft betrieben wird, u.a. ist die Poebene das größte Reisanbaugebiet Europas.
In einem 700-Seelen-Dorf fällt man als Fremde auf. Mit Schrecken dachte ich daran, wie in Deutschland so mancher Ausländer behandelt wurde. Vor allem in den ländlichen Gebieten.
In San Marino war die Neugier der Einwohner deutlich zu spüren, jedoch brachten die meisten mir eine fast schon rührende Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft entgegen. Das Dorf war wie eine große Familie, jeder kannte jeden und jeder war für den anderen da. Auch mich nahm man schnell in die Dorfgemeinschaft auf. Ich wäre noch mehr integriert gewesen, wenn ich die örtliche Kirche besucht hätte. Das jedoch tat ich nicht, ich hatte damals keinen Bezug zur katholischen Kirche. Sowieso empfand ich die Italiener in Punkto Glauben und Spiritualität ziemlich widersprüchlich. Einerseits gab es die allgegenwärtige Kirche. Der Papst wurde sehr verehrt und fast niemand traute sich, ihn und seine Aussagen zu kritisieren.Der sonntägliche Kirchgang war in den meisten Familien eine feste Tradition. Man bekreuzigte sich und betete. Um dann anschließend nach Hause zu gehen und sich auf dem Nachhauseweg ebenfalls zu bekreuzigen und zu beten, weil einem eine schwarze Katze über den Weg lief.
Glaube und Aberglaube ging offen Hand in Hand. In den italienischen Privatsendern boomten die Sendungen, in denen Hellseher den Zuschauern via Telefon die Zukunft aus den Karten vorhersagten. Sie hatten hervorragende Einschaltquoten.
Der Papst predigte, die Menschen sollten keinen Sex vor der Ehe haben. Sex sei einzig und allein aus Gründen der Fortpflanzung unerlässlich. Die Pille als Verhütungsmittel wird heute noch abgelehnt. In den 80igern jedoch war die Ein-Kind-Familie zumindest im Norden Italiens schon weit verbreitet. Ich frage mich, wie die Italiener das hinbekommen haben. Durch Verzicht? Ganz bestimmt nicht!
Ich empfand es als sehr interessant, mich mit den Traditionen und der Mentalität der Italiener zu beschäftigen. Diese Offenheit bekam ich zurück. Das half mir sehr, mich in San Marino bald wohl zu fühlen.
Es gab einen einzigen Lebensmittelladen, jeder kaufte im "negozio"ein. Die alltäglichen Kleinigkeiten, frisches Brot oder Dinge,die man beim Großeinkauf im Einkaufszentrum, das nur 1km entfernt war, vergessen hatte.
Das negozio war aber nicht nur ein Laden, es war auch eine Art Bank. Jeder ließ hier anschreiben und bezahlte einmal im Monat. Auch wenn man mal Geld brauchte, bekam man dort auf die Schnelle ein kleines Kredit. Der Ladeninhaber verlieh kleinere Beträge bis 200.000 Lire auf Anfrage ohne mit der Wimper zu zucken. Das Einkaufen im negozio war meist eine zeitintensive Geschichte. Jeder nutzte den Einkauf zu einem Tratsch. Der Ladeninhaber war so immer gut informiert und seine Rolle als Dorfzeitung erfüllte er mit Bravour. Der Laden konnte voll von wartenden Kunden sein, das gerade geführte Schwätzchen wurde erst in aller Ruhe beendet, bevor der nächste dran kam. Die Kunden nahmen es mit Gelassenheit, schließlich schwatzte ja jeder. Und die Wartezeit konnte man wunderbar dazu benutzen,mit den anderen Einkaufenden ebenfalls ein Schwätzchen zu halten.
Das Leben in San Marino war irgendwie stressfrei. Die Leute hatten es nicht so sehr mit der Pünktlichkeit. Sie lebten nach dem Motto: Komme ich heute nicht, dann komme ich morgen! Aber kommen werde ich ganz bestimmt!
Man konnte sich darauf verlassen, dass der Handwerker kam, wenn man ihn rief. Es war nur die Frage, wann er kam. Ich lernte, gelassener zu werden. Ich lernte, dass es nicht wichtig war, ob der tropfende Wasserhahn heute oder morgen repariert wurde. Wichtig war doch, dass er repariert wurde. Und das wurde er. Diese Einstellung machte mein Leben um einiges stressfreier und ruhiger.
Eine weitere schöne Geschichte ist diese hier: vor unserer Eingangstüre befand sich unsere große Terrasse. Wie die meisten Nachbarn aßen wir bei schönem Wetter draußen auf der Terrasse. An lauen Sommerabenden war das herrlich. Wenn dann per Zufall ein Nachbar vorbei kam, dann fragte er nicht lange, sondern kam ganz von selbst durchs Gartentörchen an unseren Tisch, sprach ein paar Minuten mit uns und verabschiedete sich kurz mit den Worten,er käme gleich wieder. Was er dann auch tat. Doch dieses Mal brachte er etwas mit, z.B. eine Flasche Wein. Dann setzte er sich in aller Selbstverständlichkeit zu uns an den Tisch. So konnte das mit mehreren Nachbarn passieren. Und jeder brachte etwas mit, der eine ein Weißbrot, der andere Oliven,der dritte Tomaten mit Mozzarella und Basilikum... Eh man sich versah, hatte man ein die halbe Nachbarschaft auf der Terrasse. Italo baute dann die Boxen unserer Stereoanlage draußen auf und wir machten zusätzlich noch etwas Musik. Es war eine tolle Art, die Sommerabende zu verbringen. Gesprächsstoff geht den Italienern nie aus. Es wurde heiss diskutiert über Fussball, Politik, aber auch über das Dorf und seine Bewohner.Oft habe ich solche Abende erlebt und genossen. Als ich wieder nach Deutschland zurück kehrte, waren es vor allem genau diese Abende, die ich sehr vermisste.
Ich habe die Italiener als sehr fleißiges Volk kennen gelernt. Immer gab es was zum werkeln, putzen, reparieren oder der Garten wurde bewirtschaftet. Nur im Sommer in der heißen Mittagszeit sah man fast niemanden draußen. Da verbrachte man die Zeit lieber in der kühleren Wohnung und hielt ein Schläfchen, wenn man konnte.
Als Kind hatte man es gut in San Marino. Auf der Straße durfte man so laut und so lange spielen, wie man wollte, keiner schimpfte deswegen. Die Kinder wurden nicht Punkt 8 Uhr ins Bett gebracht, zumindest nicht im Sommer. Nicht selten sah man Väter mit ihren Söhnen abends um 22 Uhr noch auf der Straße Fussball spielen.
 Ich habe dort viele Mütter kennen gelernt, die auch arbeiten gingen. Die meisten hatten die Großeltern ganz in der Nähe, die in dieser Zeit für die Kinder da waren. Überhaupt empfand ich die Beziehungen zwischen den Generationen als sehr gut. Da war eine Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der man miteinander umging, das fiel mir sehr deutlich auf.
Natürlich gab es auch Konflikte und Streit innerhalb der Familien. Die wurden dann temperamentvoll und lautstark ausgetragen. Meist konnte die Nachbarschaft gut mithören und sich ein eigenes Bild über den Konflikt machen.
Es war wirklich ein schönes Leben in San Marino. Niemand hatte Vorbehalte gegen mich... nur eine einzige Person zeigte mir deutlich ihre Abneigung.
Es war ein alter Mann, er war bestimmt weit über 70 und ging am Stock. Als er mich das erste Mal sah, da wechselte er sofort die Straßenseite. Ich traf ihn öfters, wenn ich Bianca in den Kindergarten brachte. Jedesmal, wenn er mich von Weitem sah, dann wechselte er die Straßenseite. Auf mein freundliches "Buongiorno" reagierte er nicht, er würdigte mich keines Blickes und ging seines Weges. "Was hat er nur gegen mich?" fragte ich mich nach einiger Zeit irritiert. Ich fand keine Antwort auf diese Frage. So nahm ich mir eines Tages vor, ihn darauf anzusprechen. Als ich ihn das nächste Mal traf und er wieder die Straßenseite wechselte, da tat ich es ihm gleich und ging auf ihn zu.
"Buongiorno Singore! Wie geht es Ihnen? Nun habe ich Sie schon so oft getroffen und ich spüre, wie sehr Sie mich ablehnen. Vielleicht habe  ich ja irgend etwas falsch gemacht? Falls ja, dann tut mir das sehr leid. Es wäre schön, wenn Sie mir sagen könnten, was Sie gegen  mich haben, dann kann ich mich entsprechend verhalten und Sie müssen nicht immer die Straßenseite wechseln, wenn Sie mich sehen."
Sein Blick war ablehnend, aber auch erstaunt. Einige Sekunden schaute mich der alte Mann nur an und sagte nichts. Dann begann er zu sprechen: "Ich habe nichts persönlich gegen Sie. Trotzdem wünsche ich keinen Kontakt zu Ihnen. Von 1942 bis 1945 war ich Kriegsgefangener in Berlin! Ich wurde geschlagen,bekam nichts zu essen, musste Zwangsarbeit leisten und sah viele meiner Kameraden sterben. Ich habe keine guten Erfahrungen mit Euch Deutschen gemacht. Und seit dieser Zeit habe ich auch nicht mehr mit Deutschen gesprochen. Sie sind die Erste. Ich werde aber nie wieder mit Ihnen sprechen. Das war das erste und letzte Mal!" Dann ließ er mich einfach stehen und ging weiter. Ich konnte nicht einmal mehr mein Bedauern über sein Schicksal ausdrücken. Einen Moment war ich versucht, ihm hinterher zu laufen und genau dies zu tun. Doch irgend etwas in mir hielt mich zurück. Seine Geschichte machte mich sehr traurig.
Ich akzeptierte seine Entscheidung und ging - wie er - meinen Weg weiter.
Der alte Mann hielt Wort. Er sprach nie wieder ein Wort mit mir.

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