San Francisco oder Armut im Paradies - die Kehrseite der "Medaille". Obdachlose "en Mass" !

Von Gerd Bewersdorff @derallrounder
Neureiche Tech-Arbeitnehmer ziehen für Unternehmen wie Twitter nach San Francisco. Deshalb schnellen die Mieten in absurde Höhen, Normalsterbliche können sich ihre Wohnungen nicht mehr leisten – schuld ist ein Gesetz. Betteln und Hausieren verboten ...

Obdachlos in der Stadt der Millionäre: Viele Normalsterbliche können sich die Mieten in San Francisco nicht mehr leisten.  Auch in Deutschland steigen die Mieten. Bildquelle Handelsblatt

 
Das alles also im sogenannten Land der unbegrenzten Möglichkeiten: Go to USA oder nach dem Motto: "Wer soll das bezahlen, wer hat so viel Geld? Wer hat so viel Pinkepinke? Wer hat das bloß bestellt?"
Auch die Obdachlosenbetreuung muss mit der Zeit gehen. Seit 100 Jahren hilft die gemeinnützige Stiftung Compass in San Francisco Familien in Not. Ein Dach über dem Kopf zu finden ist noch immer die wichtigste Aufgabe, denn das ist in der einstigen Hippie-Stadt San Francisco fast unmöglich. Aber die Zukunft der Kinder will Compass-Leiterin Erica Kisch auch nicht vernachlässigen.
Seit Mai 2014 kooperiert sie mit „TwitterforGood“, der wohltätigen Stiftung des lokalen Microblogging-Dienstes. Im „Twitter-Nachbarschafts-Nest“ bekommen die Kleinen grundlegende Kenntnisse über die Technologiewelt da draußen vermittelt. Kenntnisse, ohne die man heute nicht nur im Silicon Valley die Schulzeit kaum erfolgreich überleben kann. „Das ist ein riesiger Schritt für uns“, so Erica Kisch.
Die Partnerschaft ist lobenswert, aber nicht ohne Beigeschmack. Es sind Unternehmen wie Twitter, die mit dem Versprechen langjähriger Steuersubventionen in signifikanter Millionenhöhe nach San Francisco gelockt wurden, die die Stadt unbezahlbar machen. In ihrem Sog folgen junge Tech-Angestellten, die schnell sechsstellige Gehälter beziehen. Sie zahlen Mieten, die sich immer weniger außerhalb der High-Tech-Branche leisten können. Eine Million Dollar investiert Twitter nun in die Vorschulausbildung der entwurzelten Kinder. Nicht der Rede wert bei einer Börsenkapitalisierung von 32 Milliarden Dollar.
Aber Erica Kisch ist realistisch. Es lohnt nicht, gegen die Tech-Riesen zu kämpfen. Compass will sie dagegen in die Verantwortung nehmen. Nach eigenen Angaben unterstützt die Organisation in der 800.000 Einwohner-Stadt rund 3500 Menschen pro Jahr, die Hälfte davon unter 18 Jahren. Meist sind es Alleinerzieher-Haushalte mit einem oder zwei Kindern, und 90 Prozent davon sind obdachlos und leben unter der Armutsgrenze.
Um nur die durchschnittlichen Miet- und Nebenkosten und Essen für drei Personen in der Boomstadt an der Bucht von San Francisco aufzubringen müsste ein alleinerziehender Elternteil vier Mindestlohn-Vollzeitjobs haben, also 32 Stunden pro 24-Stunden-Tag arbeiten. Und das, obwohl der Mindestlohn der Stadt mit über zehn Dollar pro Stunde am oberen Ende von ganz Amerika liegt. Gerade erst vor einem Monat wurde er im benachbarten Oakland, nur zehn Minuten entfernt, von acht auf neun Dollar angehoben. Immer mehr „Vertriebene“ aus San Francisco wandern wegen unbezahlbarer Mieterhöhungen nach Oakland aus und treiben dort Mieten und Lebenshaltungskosten in die Höhe.
Vermieter haben keine Lust auf Normalverdiener
Einen Vermieter für Normalverdiener mit Familie zu begeistern, das ist reine Sisyphusarbeit. Bis zu 3900 Dollar im Monat werden für eine Zweizimmer-Wohnung schnell verlangt – und bezahlt. Unternehmen wie Apple, Google und Facebook räumen offen ein, dass sie ein Diversifizierungsproblem haben. Gut 70 Prozent oder mehr der Angestellten sind weiß und männlich.
Der typische Nutzer eines der „Google-Busse“, Synonym für klimatisierte Luxus-Shuttlebusse zum Arbeitsplatz im Silicon Valley, ist unter 30 Jahre alt, alleinstehend, kinderlos und verdient 100.000 Dollar oder mehr. Mit solchen Zahlen, ermittelt von der Universität Berkeley, kann kaum noch jemand mithalten. Der Median des Familieneinkommens in San Francisco liegt bei 74.000 Dollar im Jahr. David Campos, Abgeordneter des beliebten Mission-Distrikts im Herzen der Stadt, gibt freimütig zu: „Es ist heute die Mittelklasse, die aus der Stadt gedrängt wird. Es ist eine Stadt, die sich nur noch Millionäre leisten können.“
Szenenwechsel San Francisco Bay: Ein sonniger Nachmittag vergangenen Mittwoch am Lagerhaus Pier 48. Drinnen feiert sich die Technologie-Elite bei der „Disrupt“-Konferenz des Tech-Blogs TechCrunch mit Freibier und Schnittchen, draußen warten die Demonstranten. „Zwangsgeräumt“ steht auf dem Schild, das ein Fahrrad-Rikschafahrer hoch hält. Ein anderes Banner liest sich „Klassenkampf 2.0“. Die Zahl der Zwangsräumungen steigt seit Jahren raketenartig an. Dabei muss nicht einmal ein Mietrückstand oder ähnliches vorliegen. Gängige Praxis ist, Mietern eines Hauses eine kleine Abfindung anzubieten. Wenn sie nicht gehen, dann greift „Ellis Act“, die Wunderwaffe der Immobilienbesitzer.

Die Realität: Wat nu? Bild pixabay


Das geht so, wie es Google-Anwalt Jack Halpin vorexerziert. Er hat als Privatmann ein Mehrfamilien-Mietshaus gekauft und nach dem Kauf festgestellt, dass er eigentlich ja gar kein Vermieter sein will. Er werde das Vermietungsgeschäft verlassen, teilte er der Stadt mit. Dann beantragte er die Räumung nach dem „Ellis Act“, ein Gesetzt, das für diesen Fall geschaffen wurde.
Alle Familien, sieben an der Zahl, darunter eine Lehrerin, sollen nun ausziehen. Was später mit dem Haus passiert, ist unklar. Die Wohnungen könnten zum Beispiel mit Gewinn verkauft werden. Das Haus kann auch einfach so weiterverkauft werden. Etwa an einen anderen „Vermieter“, vielleicht sogar aus der eigenen Familie. Der wiederum vermietet dann die Wohnungen neu. Natürlich zu dramatisch erhöhten Sätzen.
Der perfide „Ellis-Act“
Wie perfide der gerade einmal 30 Jahre alte „Ellis Act“ wirkt belegt die Tatsache, dass es „Serien-Aussteiger" gibt. Nichts hindert einen Investor daran nach einer Ellis-Räumung ein neues Mietshaus zu kaufen und wieder festzustellen, dass man eigentlich kein Vermieter sein will. Versuche, wenigstens eine Karenzzeit von einigen Jahren zwischen einzelnen Entmietungen einzuziehen, prallen bislang an der Lobby der Immobilienbesitzer ab. Die Rate der „Ellis Act“-Räumungen ist zwischen 2010 und 2013 um 170 Prozent auf mehr als 100 pro Jahr angestiegen.
Getroffen hat es auch Benito Santiago. Der 62-jährige wohnte seit 37 Jahren in einem Zweizimmer-Appartement in einem Altbau im Mission-Distrikt mit 575 Dollar kontrollierter Rente, als er im November 2013 den Räumungsbefehl nach „Ellis Act“ bekam. Der Tanzlehrer, der nebenbei noch Unterricht an einer Schule für behinderte Kinder gibt, weiß nicht mehr wohin. Wenn er keinen Ärger macht wollten ihm die Besitzer 20.000 Dollar zahlen. Dafür hätte er in einem Monat raus sein müssen. Er hätte sogar wieder als Mieter zurückkommen können, erzählte er dem örtlichen TV-Sender KQED: für 4.000 Dollar im Monat. Jetzt lässt er es auf eine Klage ankommen.
Geklagt hat auch die Stadt San Francisco. Sie will illegale Vermieter zur Strecke bringen, die nach „Ellis Act“ alle Mieter rauswerfen und dann die Wohnungen an Touristen über AirBnB vermieten. Fünf Immobilienbesitzer sind die ersten, die es erwischt hat. Einer von ihnen nimmt laut Bloomberg heute 595 Dollar pro Nacht für die Wohnung, die er angeblich nicht mehr vermietet.

AirBnB, mit zehn Milliarden Dollar bewertetes Start-Up, zeigt sich in diesem Fall ganz auf der Seite der Mieter: „Wenn eine kleine Zahl betrügerischer Besitzer unsere Plattform missbraucht um Mieter rauszuwerfen“, so ein Sprecher, „können wir die Aktion nur mit ganzem Herzen unterstützen.“ Einen dieser Vermieter habe man bereits ausfindig gemacht und gesperrt, hieß es Ende April.
So braucht sich Erica Kisch also nicht über einen Mangel an Zustrom zu sorgen. Es werden immer mehr und es werden immer mehr „Normalverdiener“: „Die Warteliste für Familien ist heute so lang wie nie zuvor“, stellt sie in einem Gespräch mit dem Handelsblatt fest. „Es dauert bis zu sechs Monate bis wir etwas finden können.“ Das bedeutet im schlimmsten Fall ein Leben auf der Straße, was in San Francisco besonders dramatisch ist.
So könnten obdachlose Eltern der Kleinkinder im Twitter-Nest vor der Tür des Twitter-Hauptquartiers an der Market Street verhaftet werden, während die Kleinen das Ein-mal-Eins des Computerns lernen. Aufgrund einer extremen Obdachlosenproblematik hat die Tech-Metroplole ihr eigenes „nicht sitzen, nicht liegen“-Gesetz. Wer auf Straßen sitzt oder liegt kann verhaftet oder vertreiben werden. Was zum Beispiel jeden Morgen passiert, wenn die Polizei die Market Street abgeht und „säubert“, bevor die jungen Tech-Angestellten bei Twitter, Zendesk oder Uber zur Arbeit erscheinen.
Neues Gesetz zur Obdachlosen-Unterstützung
Das „Homeless Person's Bill of Rights and Fairness”-Gesetz soll das für ganz Kalifornien ändern. Wird es verabschiedet bekommen Obdachlose ein Recht auf den Zugang zu öffentlichen Toiletten und dürfen sich 24-Stunden am Tag legal im öffentlichen Raum aufzuhalten. Polizei und private Wachdienste müssten sogar Schadenersatz leisten, wenn sie Hab-und-Gut von Obdachlosen, wie heute nicht unüblich, einfach im Müllcontainer entsorgen. Ausnahmen von diesem Gesetz gibt es nur, wenn eine Stadt weniger als 50 Personen auf der Warteliste für eine Sozialwohnung hat.
Davon ist San Francisco so weit entfernt wie die Erde vom Mond. Aufgrund einer an sich liberalen Haltung der ehemaligen Hippie-Hochburg ist zwar das soziale Netz schon besser geknüpft als in anderen Städten. Doch das hat fatale Folgen. So soll Berichten zufolge alleine das Rawson-Neal Hospital in Las Vegas rund 500 arme und obdachlose Patienten ohne Rückfahrschein in Busse Richtung San Francisco verfrachtet haben, um die Behandlungskosten zu sparen.
Im September 2013 reichte die Stadt sogar eine Klage vor Gericht ein, um den Strom an psychisch Kranken einzudämmen. Mehr als 500.000 Dollar an Schadenersatz für die Pflege der hilflos gestrandeten Menschen verlangt die Stadt. Nevada weigert sich bislang standhaft. Geld dürfte auch kaum da sein: Die im September gewährten Steuergeschenke für die Ansiedlung der Batteriefabrik von Tesla in Nevada belaufen sich alleine auf 1,25 Milliarden Dollar. Alleine im Stadtteil Tenderloin in San Francisco wird die Zahl der Obdachlosen auf über tausend geschätzt.

Die Proteste vor der Party der High-Tech-Gewinner am Pier 48 dauerten auf jeden Fall nicht lange. Wie die lokale Webseite 48Hill berichtet erschien auf Anforderung des Veranstalters TechCrunch die Polizei und forderte das versprengte Grüppchen auf, den Ort zu verlassen. Das war illegal, wie 48Hill anmerkt. Die Straße vor dem Partygebäude ist öffentliches Gelände. „Wenn du reich bist und bei Google arbeitest, kannst du Lehrer aus der Wohnung werfen. Wenn du deswegen eine Szene machst, ruft „BigTech“ die Polizei und lässt dich von öffentlichem Grund vertreiben“, resümiert die Webseite. „Was für eine Botschaft für das San Francisco 2014.“
Quelle Handelsblatt