Salut Michel, Yasmina et Virginie!

Was ist ein Wohlfühlbuch? Darüber habe ich vor einigen Tagen mit zwei Freundinnen diskutiert. Unser Fazit: Ein Wohlfühlbuch sollte hoffnungsvoll optimistisch und mit vielen positiven Figuren und Situationen angereichert sein. Es sollte einen verregneten Sonntag auf dem Sofa schöner machen - bei Schokolade und einer Tasse Tee oder Kaffee. Manchmal braucht man das einfach bei all der Tristesse da draußen. Und es tut gut für den Moment des Lesens.
Eigentlich lese ich aber viel lieber Bücher, die kritisch, düster, zynisch oder auch mal ein bißchen schräg sind. Unangepasste Helden in komplizierten Situationen, verrückte Einzelgänger oder komplizierte Aussenseiter - ich suche immer wieder nach ihren Geschichten. Und finde sie neuerdings immer öfter in der aktuellen französischen Literatur:

1. Michel Houellebecq. Unterwerfung

Der an der Sorbonne lehrende Literaturprofessor François ist 45 Jahre alt und fühlt sich müde. Nicht nur vom Sex und vom Alkohol, sondern vom Leben ganz allgemein. Es ist das Jahr 2022 und die Gesellschaft Frankreichs verändert sich gerade leise und unauffällig. Juden wandern nach Israel aus, weil es zu gefährlich ist, weiterhin in Frankreich und in Europa zu leben. Grund ist aber nicht die rechtsgerichtete Politik des Landes sondern die langsame Islamisierung - beginnend an den Universitäten. Houellebecq provoziert und stimmt zugleich nachdenklich. Das Buch gibt es seit Juni 2016 im Taschenbuch für 10,99 €. Erschienen bei DuMont. Zum Weiterlesen hier ->

2. Virginie Despentes. Das Leben des Vernon Subutex

Dieses Buch sprach mich nicht nur wegen seiner Autorin an, die mit dem Roman Base-moi - Fick mich vor Jahren schockiert und provoziert hat. Ein weiterer Grund ist, dass es bereits einen literarischen Helden dieses Namens gibt: Vernon God Little aus dem Roman Jesus von Texas. Darin beschreibt Autor dbc pierre einen Außenseiter, der zu Unrecht beschuldigt wird, einen Amoklauf begangen und die Mitschüler seiner Klasse getötet zu haben. Absolut zeitkritisch, wundervoll schräg und böse!

Ich war extrem neugierig auf den französischen Vernon, der hier in Paris mal den angesagten Plattenladen Revolver besessen hat, diesen nicht mehr betreiben kann und alles verliert. Wie beginnt so ein Abstieg? Dezent und leise, aber total aussichtslos. Und gerade deshalb umso schockierender:

Kaffee hat er seit Wochen nicht mehr gekauft. Die Zigaretten, die er sich morgens aus den Kippen vom Vortag dreht, sind so dünn, dass er eigentlich nur noch Papier raucht. Er hat nichts zu essen im Haus. Aber das Internetabo hat er behalten ... Im Angesicht der Katastrophe hält sich Vernon an einen Grundsatz: so zu tun, als ob nichts wäre (S. 7).

Revolver - das waren zwanzig Jahre seines Lebens, in denen Vernon fast täglich im Laden stand. Plötzlich hat er furchtbar viel Zeit. Muss lernen, den Tag neu zu strukturieren. Ausschlafen, lesen, Radio hören ... Außerdem war er inzwischen endgültig pleite, was seinen Hang zur Isolierung verschärfte. Dass er kein Geld hatte, eine Flasche mitzubringen, wenn er zu jemandem zum Essen ging, hielt ihn davon ab, Einladungen anzunehmen ... Stress, weil die Metrozugänge unüberwindbar waren. Stress, weil die Sohle von den Turnschuhen abging ... Er reduziert jede Bewegung auf ein Minimum. Er isst weniger ... Chinesische Trockensuppe mit Nudeln ... (S. 25)

Vernons Drama beginnt aber eigentlich an dem Punkt, als er seine Wohnung verliert. Doch er ist schlau genug, das nicht offiziell zu kommunizieren und nutzt Facebook, um sich als jemand darzustellen, der er gar nicht mehr ist - in Kanada lebend, zu Besuch in Paris. Ein paar alte Bekannte gewähren ihm ein paar Tage auf dem Gästesofa. Manchmal gelingt es Vernon, seine Fassade so aufzubauen, dass er noch in das Bett einer Frau gelangt. Doch all das verhindert nicht, dass die anderen seine Obdachlosigkeit riechen, dass er schrecklich einsam und ziemlich verwahrlost wirkt. Das Tragische an dieser Story ist, dass auch all die Ex-Pornostars, Ex-Rocker und alternden Helden dieser Geschichte eine Fassade aufgebaut haben, hinter die zu blicken schockiert und abstößt. Ein Blick, der aber gleichzeitig seltsam berührt. Despentes erzählt atemberaubend spannend, sehr kritisch und voller Wärme und Liebe mit jeder einzelnen Figur dieses ersten Teils einer Trilogie über Vernon Subutex. Und wie das mit der Phantasie so ist ... für mich sieht Vernon irgendwie aus wie der 40-jährige Michel Houellebecq. Bin sehr gespannt, wie es weitergeht.

Virginie Despentes. Das Leben des Vernon Subutex. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Verlag Kiepenheuer & Witsch. Köln 2017. 399 Seiten. 22 €

3. Yasmina Reza. Babylon

Ebenfalls in der Gegenwart Frankreichs befinde ich mich mit Babylon. Auch Yasmina Reza entwirft ein grandioses Figuren-Ensemble. Der Roman erzählt kurz und knapp eine kleine Episode aus dem Leben einer Frau, die eigentlich fest im Leben verankert ist. Lediglich ihr Alter macht Elisabeth zu schaffen:

Sechzig war das Alter von Eltern. Ein gewaltiges, abstraktes Alter. Jetzt bist du selbst so weit. Wie kann das sein? Eine junge Frau schlägt über die Stränge, wie sie nur kann, zieht aufgebrezelt und in Kriegsbemalung durchs Leben, und auf einmal ist sie sechzig (S. 14).

Dennoch ist sie relativ glücklich und lebt mit ihrem Mann in einer schönen Wohnung in einem Haus mit netten Nachbarn. Alles beginnt mit einer lockeren Frühlingsparty. Doch schon nach kurzer Zeit kratzen erste zynische Bemerkungen einiger Gäste an der Wohlfühlstimmung des Abends. Ist man eigentlich linksliberal oder mittlerweile eher rechts? Hatte man überhaupt jemals linke Überzeugungen besessen? Haha!
Und hat man mit 60 Jahren das Schlimmste bereits hinter sich? Oder kommt das wirklich Schlimme erst noch? Und wann ist eigentlich ein Huhn ein echtes Bio-Huhn? Doch erst, wenn es auf Bäumen gesessen und im Sand gebadet hat! Jean-Lino und Ehefrau Lydie finden zum Thema Bio-Hühnchen keinen gemeinsamen Nenner. Dieser Streits wird zu einer Endlos-Kette an Demütigungen und endet kurze Zeit darauf im ehelichen Schlafzimmer mit einem Mord. Rasant und sehr verknappt erzählt. Eine Lektüre, die viel zu schnell vorbei ist!

Yasmina Reza. Babylon. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Carl Hanser Verlag. München 2017. 219 Seiten. 22 €

Houellebecq, Despentes, Reza - sie erzählen Stories, die mich eindringlich spüren lassen, wie schnell im realen Leben alles umkippen und entgleisen kann. Niemand ist davor geschützt. An keinem Ort der Welt. Plötzlich ist nichts mehr wie es war. Und es wird auch einfach kaum besser. Ein Happy End kann man vergessen! Dennoch lese ich gerade solche Geschichten super gern, weil sie mich zutiefst berühren und aufwühlen. Ich liebe Figuren wie François, Vernon und Elisabeth (in dieser Reihenfolge). Sie sind keine Helden, agieren aber auf ganz besondere Art - besonders melancholisch, grüblerisch und verletzlich. Und dabei doch voller Sehnsucht nach Nähe und Aufmerksamkeit.


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