SACRIFICE von Sarah Nemtsov an der Oper Halle – Neue Oper, neues Musiktheater

Von Theaternomadin

Die Oper Halle ist weiterhin voll in Aufbruchsstimmung. Jetzt hat Florian Lutz, der Theaterumkrempler, die erste von mehreren geplanten Uraufführungen auf die Bühne gebracht. Die neue Oper Sacrifice von Sarah Nemtsov und Dirk Laucke, die als Auftragswerk für die Oper Halle entstanden ist, bezieht sich zwar auf konkrete reale Begebenheiten, stellt diese aber nicht konkret dar. 2014 haben sich zwei Mädchen aus Sangerhausen in Sachsen-Anhalt auf den Weg nach Syrien gemacht, um in den Dschihad zu ziehen - und nie mehr zurück zu kehren. Offenbar kein Einzelfall. Das sind Tatsachen, die das neue Team in Halle beschäftigt haben. Die Komponistin Sarah Nemtsov interessierte sich in diesem Zusammenhang besonders für Fragestellungen wie "Was bringt einen Menschen dazu - zunächst gedanklich, bis hin zur Tat? Wie, wann wodurch wird (innerlich) die Grenze überschritten? Hätte es ein Zurück geben können?". Wer wünschte sich nicht Klärung dieser Fragen. Hat die Oper Halle einen Antwortversuch gewagt?

Kunstinstallation und Theater

Die Inszenierung von Florian Lutz findet in der bereits bekannten Raumbühne von Sebastian Hannak statt. Aber wer hier vielleicht schon den Fliegenden Holländer gesehen hat, kann noch lange nicht davon ausgehen, bekanntes Terrain zu betreten. Und es ist ohnehin jedes Mal wieder aufregend (selbst wenn man von Beruf Theatertier ist) als Zuschauer in den magischen Bühnenraum gelassen zu werden. Hier erwartet das Publikum eine Bestuhlung auf der Drehscheibe der Bühne. Drumherum sind unterschiedliche Orte bzw. Szenen installiert - der Zuschauer wird bequem dorthin gedreht, wo der derzeitige Fokus liegt. Da gibt es die erwähnten jungen Frauen, die sich in einer Landschaft von abgestorbenen Zimmerpflanzen fast zu Tode langweilen, bis sie den Selbstmord als Spiel und reale Möglichkeit entdecken.

Auf der anderen Seite sehen wir drei Kriegsjournalisten, die über Form und generelle Sinnhaftigkeit ihrer Berichterstattung diskutieren und streiten. Währenddessen geht irgendein Ehepaar in Deutschland den Banalitäten eines bürgerlichen Alltags nach, bis der Mann beschließt Flüchtlingen eine Unterkunft zu bieten. Wir haben doch Platz! Aber wieviel Opferbereitschaft ist hier eigentlich angemessen?

Auch das Orchester unter der aufmerksamen Leitung von Michael Wendeberg ist gut sichtbar und nah an einer Seite positioniert, sodass immer wieder auch die Musik und das Abarbeiten von Musikern und Dirigent daran in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt.

Und an allen Seiten Projektionsflächen und Bildschirme, die vom Videokünstler Konrad Kästner bespielt werden. Der Abend beginnt und endet mit einem Fadenkreuz. Zuerst sind unbekannte ameisenkleine Menschen das Ziel - am Ende sind es wir Zuschauer selbst. Dazwischen werden Texte gezeigt, das Live-Bild der Kamera, die von Darstellern geführt wird oder verfremdete Schnipsel aus Fernsehnachrichten. Was wir nicht sehen sind plakative Bilder von Opfern oder Gewaltdarstellungen.

Neue Musik

Die Musik dazu ist sehr vereinfacht gesagt das, was man sich unter Neuer Musik vorstellen kann. Teilweise schrill, in jedem Fall kontrastreich und größtenteils disharmonisch. Die Stimmführung ist nicht einer vermeintlich natürlichen Sprachmelodie nachgeformt, sondern abstrakt. Langgezogene Silben und Wortwiederholungen erschweren die Verständlichkeit. Das kann den ein oder anderen Zuschauer so befremden, dass er schon früh den Weg nach draußen sucht. Wer bleibt kann sich darauf verlassen, eine stimmungsvolle Komposition zu erleben, die ihren Sängern zwar viel abverlangt, aber damit auch viel erzählt über die Schwierigkeit bis zur Unmöglichkeit, bestimmte Ideen auszusprechen oder auch nur zu denken. May I be sacrificed.

Dass Sacrifice von Nemtsov und Laucke eine Antwort auf die anfänglichen Fragen schuldig bleibt, war zu erwarten. Wer außerdem bereits mit zeitgenössischer Dramatik in Berührung gekommen ist, wird auch nicht überrascht sein, dass kein linearer Handlungsstrang zu verfolgen ist. Für mich stellte sich aber teilweise die Frage, ob die angebotenen Bilder und Szenenfragmente nicht an der dem Thema angemessenen Eindringlichkeit vermissen lassen. Es war mir schlichtweg noch zu gemütlich an diesem Abend, der mir etwas von Beunruhigung, Irritation und Ausweglosigkeit vermitteln wollte.

Neues Musikheater

Ob Sacrifice eine gute Oper ist, mag diskutabel sein. Was Florian Lutz daraus gemacht hat, ist jedenfalls viel mehr als eine Opernvorstellung. Es ist ein Abend über das Theatermachen und das Theatererleben an sich. Er entführt uns nicht in eine andere Welt, sondern zeigt uns hautnah die Realitäten der Theaterproduktion. Diese ist nicht perfekt und nicht abgeschlossen. Überall sind noch Freiräume, wo etwas passieren kann, wo verändert werden kann, wo neue Lösungen gefunden werden können. Florian Lutz versteht Inszenierung hier nicht als fertiges Kunstwerk, sondern als Experiment und Prozess. Das Publikum ins Zentrum zu setzen ist außerdem ein sinnfälliges Bild für eine Tatsache, die in jeder Diskussion über neue Formen des Musiktheaters vorkommen muss: Der Zuschauer ist Teil der Vorstellung. Gerade in der hier erlebten großen Nähe zu den Darstellern und Musikern wird dies deutlich, denn auch der Zuschauer wird angeschaut. Unser Feedback, egal ob ausgesprochen oder nonverbal, hat Wirkung auf den Verlauf der Vorstellung. Hat man diesen Gedanken erst verinnerlicht, wird klar, dass man als Zuschauer nicht nur Einfluss auf eine Vorstellung hat, sondern auch Verantwortung übernimmt, was die Zukunft und den Stellenwert von (Musik-)Theater in unserer Gesellschaft betrifft. Bleibe ich sitzen oder gehe ich heim und setze mich vor den Fernseher? Denke ich darüber nach oder lasse ich es einfach an mir vorbeiziehen? Bleibe ich stumm oder habe ich etwas dazu zu sagen?

Da ist es nur konsequent, dass das Team der Oper Halle zu zahlreichen Vorstellungen Nachgespräche anbietet. Wenn das nicht die perfekte Gelegenheit ist, um sich über diesen merkwürdigen Abend zu beschweren! (Oder um zu loben, dass in Halle endlich die dicke Staubschicht vom Musiktheater gepustet wird.)

Sacrifice. Oper in vier Akten von Sarah Nemtsov. Text von Dirk Laucke (UA 2017 Halle)

Oper Halle
Musikalische Leitung: Michael Wendeberg
Regie: Florian Lutz
Raumbühne: Sebastian Hannak
Kostüme: Mechthild Feuerstein
Video: Konrad Kästner
Dramaturgie: Michael von zur Mühlen

Besuchte Vorstellung: 7. März 2017