Ryoji Ikeda, Klang- und Medienkünstler aus Japan, im Kunstmuseum Wolfsburg 2019-20

"Der Besucher ist aufgefordert, mit Empathie in die Welt zu gehen, nicht mit ordnendem Strukturieren. Alles ist gleich viel wert, alles verdient gleiche Aufmerksamkeit", lese ich in meiner Zeitung (HAZ 6.12.19, Frank G. Kurzhals) in einem Bericht über die neue Ausstellung in der Kestner-Gesellschaft Hannover mit Arbeiten der Tschechin Eva Kot'átková.
Völlig anders, geradezu polar entgegengesetzt, wirken nach meinen ersten Eindrücken die Produktionen des Japaners Ryoji Ikeda, von denen zwei jetzt in Wolfsburg gezeigt werden: data-verse 1 und data-verse 2. Er versucht, was gar nicht möglich scheint, "die ganze Welt", ausgedrückt in einer ungeheuren Datenfülle, ordnend zu strukturieren. Ob das dann auch zur Antipathie statt Empathie führt? Ehrlich gesagt, bei mir war es so.

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Die Welt für sich zu strukturieren, das ist von jeher ein elementares Bedürfnis des Menschen. Einige haben auch immer wieder versucht, die Weltformel zu finden. Ryoji Ikeda scheint sie gefunden zu haben. Die beiden hier erstmals in Deutschland aufgeführten Bild-Klang-Installationen haben zum Ausgangspunkt sorgfältig studierte Datenmengen aus Naturwissenschaft, Technik, Medizin, Kunst - der Künstler hat z.B. längere Zeit mit Mitarbeiter*innen der NASA und mit Genetiker*innen zusammengearbeitet - und wurden in "Daten-Symphonien" umgewandelt (data-verse bedeutet etwa: Daten-Verwandlung), zu einem sinnlichen Gesamterlebnis. Die Bildbeispiele können nur einen schwachen Eindruck davon vermitteln. Der zentrale Raum des Wolfsburger Museums wurde vollkommen abgedunkelt (Wände geschwärzt, schwarze Teppiche auf dem Boden, Dachfenster abgedeckt). In dieser Black Box werden mit der neuesten 4-Kanal-Technik auf zwei Wände mit einer Projektionsfläche von jeweils 9 x 16 Metern gleichzeitig (!) die Bilder der beiden Installationen projiziert und dazu dem Gehör pulsierende minimalistisch variierte Klänge geboten, die von kaum hörbaren Sinustönen bis zu dumpfen, physisch erfahrbaren Bassklängen reichen. Das Ganze wirkt "immersiv", d.h. bei der Betrachterin, dem Betrachter vermindert sich die reale Wahrnehmung, sie oder er taucht komplett in die Scheinwelt ein. Hier lässt sich auch Kritik ansetzen. Diese Kunst ist eine ausgesprochen manipulative Kunst - sowohl die schnelle Abfolge der Bilder als auch die Klänge können die Betrachterin, den Betrachter kurzzeitig, im Extremfall auch dauerhaft verändern (z.B. über Herzschlag und Puls oder Gehirn und Nerven). Wichtiger Hinweis: Epileptiker*innen dürfen diese Ausstellung auf keinen Fall besuchen! Es könnte sonst ein Anfall ausgelöst werden.
Eine ordnende Struktur ist für Zuschauer*innen immer dann am besten zu erkennen, wenn vertraute Bilder auftauchen. Die Abfolge der bewegten Bilder dieser beiden Installationen beginnt mit dem Mikrokosmos (Teilchen, Gene, Moleküle usw.) und führt über den menschlichen Bereich (Gehirn, s. 2. Bildbeispiel) und die Erde und den Mond bis ins All.

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Der fotoscheue Künstler, der Interviews nicht mag, sieht sich selber hauptsächlich als Komponist ("my approach is composing"), aber er entzieht sich der Kategorisierung, er möchte frei bleiben, die Arbeiten sollen für sich sprechen. Sie sprechen tatsächlich für sich - auf eine zwiegesichtige Weise: Auf der einen Seite schärfen Ikedas Daten-Symphonien das Bewusstsein dafür, in was für einer hoch-entwickelten, differenzierten virtuellen Welt wir inzwischen leben, die wir normalerweise mit keinem der Sinne erfassen oder mit dem Verstand be-greifen können (von wenigen Spezialisten abgesehen), und macht damit auf die Gefahren aufmerksam, die das mit sich bringt. Zugleich, auf der anderen Seite, dämpft die Vorführung der Daten-Symphonien das Bewusstsein, macht passiv, ruft Unbehagen hervor - Antipathien - und würde auf Dauer die Ichkräfte schwächen. Ist das vielleicht genau das Anliegen des Künstlers, durch eigenes Erleben oder Erleiden auf die schädlichen Einflüsse aufmerksam zu machen, denen wir heute weltweit ausgesetzt sind?

Diese Ausstellung, die bis zum 29. März 2020 dauert, ist die erste, die der neue Direktor Dr. Andreas Beitin für das Kunstmuseum Wolfsburg kuratiert hat. Sie ist sicherlich geeignet, junge Menschen ins Museum zu ziehen. Data-verse 1 wurde kürzlich noch auf der Biennale in Venedig gezeigt; data-verse 2 hatte im Oktober seine Uraufführung in Tokio.

Weitere Informationen auf der Netzseite des Museums.

Text: Dr. Helge Mücke, Hannover;
Bilder, von oben nach unten:
Blick in die Ausstellung Ryoji Ikeda. data-verse
Kunstmuseum Wolfsburg
7.12.2019 – 29.3.2020
Rechts: Ryoji Ikeda, data-verse 1, 2019, commissioned by Audemars Piguet, With special thanks to The Vinyl Factory
Links:
Ryoji Ikeda , data-verse 2, 2019, commissioned by Audemars Piguet
© Ryoji Ikeda Studio, Foto: Marek Kruszewski;

Installationsansicht Venedig Biennale 2019, DCI-4K DLP projector, computer, speakers, dimensions variable (or W12.29 x H6.5m),
concept, composition: Ryoji Ikeda, computer graphics, programming: Norimichi Hirakawa, Tomonaga Tokuyama, Satoshi Hama, Ryo Shiraki
commissioned by Audemars Piguet, With special thanks to The Vinyl Factory, © Courtesy of the Artist and Audemars Piguet, Foto: Julien Gremaud

Ryoji Ikeda, Klang- Medienkünstler Japan, Kunstmuseum Wolfsburg 2019-20

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