Ruth Cerha. Bora: Eine Geschichte vom Wind

Cerha_Bora_ Eine_Geschichte_vom_WindAuch wenn in diesem so gleichzeitig zart und kraftvoll erzählten Roman ganz klar Mara und Andrej die Hauptfiguren sind, gibt es für mich eine dritte Protagonistin: Die kroatische Bora, ein kalter vom Karstgebirge herabstürzender Wind zwischen Triest und Adriaküste. Die Bora mit ihren starken Böen macht die Menschen ganz kirre, wühlt das Meer auf und lässt die Boote tanzen. Doch überraschend ist sie nicht … Sie kam und wehte alles Gegrübel, alle Gefühle der Nutzlosigkeit und Vergeblichkeit, die bohrenden Selbstzweifel und die ganze Schwere der Sehnsucht einfach fort. Zurück blieb eine azurblaue Durchsichtigkeit, fast eine Art meditativer Leere in meinem Kopf (S. 75).

Mara und Andrej begegnen sich auf einer winzigen Insel in der kroatischen Adria, welche so klein ist, dass man auf ihr sitzen und um sich herum das Meer sehen kann. Sie – eine Geschichtenerzählerin, der nichts mehr einfällt und die außerdem glücklich ist, dass es auf der Insel keinen Internetanschluss gibt. Er – ein Fotograf, der bereits alles abgelichtet hat und sich von der täglichen Bilderflut in den Social Medias überfordert fühlt. 

Er kam mit dem Boot um halb acht. Dieses Boot benutzen nur Einheimische, die Touristen schlafen um diese Zeit noch. Nicht dass es auf der Insel für Touristen viel zu sehen gäbe, außer einem romanischen Kruzifix in der ursprünglich mittelalterlichen Kirche (S. 8). Die Bora beginnt ihr eiskaltes Spiel und Mara ist auf dem Weg zum Hafen, als sie Andrej erstmals begegnet, ihn aber eher spürt, als ihn wirklich zu sehen. Sie nimmt seinen Duft wahr, einen Mix aus Kardamom und Tabak. Einen Blick auf den schmalen dunkelhaarigen Typen riskiert sie aber doch. Später versucht sie, ihn zu ignorieren. Doch die Insel ist zu klein, um sich aus den Augen zu verlieren. Und außerdem sieht Andrej gut aus, ist witzig, hat was im Kopf, seltene Kombination (S. 35), wie Mara lakonisch einer Freundin gegenüber bemerkt.

Der Rhythmus, mit welchem beide sich begegnen, ist ein ganz gemächlicher. Ähnlich dem Inseltempo, das mit der Hektik der Großstadt nicht zu vergleichen ist, klingt er wie die Musik, welche Andrej gern hört – mal cool und kraftvoll wie die einsam gezupften Gitarrenklänge von Ry Cooder aus dem Soundtrack “Paris Texas” und dann wieder wild romantisch und voller Wucht wie ein Song von Arcade Fire. Wenn Andrej und Mara umhüllt vom Rauch ihrer Zigaretten überlegen, wie nasser Fels riecht (ein bißchen metallisch und ein wenig nach Keller!), und wenn der Zigarettenrauch dann langsam am Mond vorbei zieht, klingt das fast schon kitschig, ist es aber nicht. Cerha erinnert mich mit solchen Episoden an eigene wild romantische Inselurlaube. An stille Orte mit dem bitter-herben Duft nach Thymian und Rosmarin, nach salzigem Fisch und … nassem Fels.

Es verbirgt sich außerdem so viel mehr in diesem Roman, denn der Emigrant’s Day schwebt als herausragendes Ereignis über dem gesamten Geschehen. Zart verwebt Cerha die Geschichten ausgewanderter Ex-Jugoslawen unter dem Tito-Regime. Am Emigrant’s Day kehren viele zurück auf die Insel, um mit den Zurückgebliebenen zu feiern. Auch Mara und Andrej. Ob sie gemeinsam die Insel verlassen werden, das bleibt an dieser Stelle ungesagt. Doch schafft Ruth Cerha auch dies: ein völlig unverkitschtes Ende, an dem alles irgendwie gut und gleichzeitig total offen ist – wie im echten Leben.

Ganz großartig finde ich den von Michael Hochleitner – Grafikdesigner und Gründungsmitglied von Typejockeys –  gestalteten Schutzumschlag.

Ein blaues Lesewunder erwartet Euch bei der Klappentexterin. Ihr hat die Entdeckung von Bora “diesen wundervollen Moment des vollkommenen Leseglücks” geschenkt. Mir auch!

Ruth Cerha. Bora. Eine Geschichte vom Wind. FVA Frankfurt am Main 2015. 254 Seiten. 19,90 €

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