Russland und die Welt im Wandel

Russland und die Welt im Wandelerschienen bei zeit-fragen – Danke an Christoph

von Wladimir Putin

thk. Am 27.2.2012 veröffentlichte der damalige Ministerpräsident Wladimir Putin folgenden Artikel in der russischen Tageszeitung «Moskovskie Novosti». Der Zeitpunkt der Publikation war kurz vor den Wahlen für das russische Präsidentenamt. Im lauten Geheul der vom Westen betriebenen anti­russischen Propaganda ging dieser inhaltsreiche Artikel vollständig unter, und nur wenige Menschen nahmen überhaupt Notiz von den grundlegenden völker- und staatsrechtlichen Darlegungen sowie der Analyse der weltpolitischen Situation.
Aus diesem Grund hat sich die Redaktion Zeit-Fragen entschlossen, den umfassenden Artikel im vollständigen Wortlaut zur Dokumentation für ihre Leser zu veröffentlichen:

In meinen früheren Artikeln habe ich bereits die wichtigsten äusseren Herausforderungen erwähnt, mit denen Russland es derzeit zu tun hat. Dennoch ist dieses Thema eines detaillierteren Gesprächs wert, und zwar nicht nur, weil die Aussenpolitik ein unentbehrlicher Teil der Strategie eines jeden Staates ist. Die äusseren Gefahren, die sich wandelnde Welt zwingen uns, gewisse Entscheidungen in Wirtschaft und Kultur, im Haushalts- und Investitionsbereich zu treffen.

Russland ist ein Teil der grossen Welt

Russland ist ein Teil der grossen Welt – aus wirtschaftlicher Sicht, im Sinne der Informationsverbreitung, im Kontext der Kultur. Wir können und wollen uns nicht von der grossen Welt isolieren. Wir rechnen damit, dass unsere Offenheit die russischen Bürger finanziell und kulturell bereichert und ausserdem das Vertrauen festigt, an dem es in letzter Zeit immer mehr mangelt. Wir werden aber konsequent von unseren Interessen und Zielen ausgehen und keineswegs von Entscheidungen, die uns irgend jemand aufzwingt. Russland wird nur dann mit Respekt wahrgenommen und berücksichtigt, wenn es stark ist und fest auf den Beinen steht. Russ­land hatte immer das Privileg, eine unabhängige Aussenpolitik auszuüben. Das wird auch weiter so sein. Mehr noch: Ich bin fest davon überzeugt, dass die Sicherheit in der Welt nur unter Beteiligung Russlands garantiert werden kann, ohne dass man versucht, Russland ins Abseits zu drängen, seine geopolitischen Positionen zu schwächen und seine Verteidigungsfähigkeit zu beschneiden.
Die Ziele unserer Aussenpolitik sind strategisch, unabhängig von der Konjunktur und spiegeln den einmaligen Platz Russlands auf der politischen Weltkarte wider, seine Rolle in der Geschichte und in der Entwicklung der Zivilisation.
Wir gehen zweifelsohne auch weiterhin unseren aktiven und konstruktiven Weg zur Festigung der allgemeinen Sicherheit, zum Verzicht auf Konfrontationen, zur effektiven Bekämpfung von Herausforderungen wie der Verbreitung von Atomwaffen, regionalen Konflikten und Krisen, dem Terrorismus und der Drogengefahr. Wir tun unser Bestes, um Russland mit den jüngsten Errungenschaften des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu versorgen und unseren Unternehmern einen würdigen Platz auf dem globalen Markt zu sichern.
Wir streben an, dass die Gestaltung einer neuen Weltordnung, die sich auf die aktuelle geopolitische Realität stützt, konsequent und ohne unnötige Erschütterungen erfolgt.

Wer das Vertrauen untergräbt

Ich denke nach wie vor, dass die Sicherheit aller Länder der Welt unteilbar und hypertrophe Gewaltanwendung unzulässig ist und dass die grundlegenden Völkerrechtsnormen von allen strikt befolgt werden sollten. Eine Vernachlässigung dieser Prinzipien führt zu einer Destabilisierung der internationalen Beziehungen.
Durch eben dieses Prisma betrachten wir einige Aspekte des Verhaltens der USA und der Nato, die der heutigen Entwicklungs­logik widersprechen und sich auf Stereotype aus dem Blockdenken stützen. Alle verstehen, was ich damit meine: die Nato-Erweiterung, die die Errichtung von neuen Objekten der Militärinfrastruktur einschliesst, und die von den USA inspirierten Pläne der Allianz zur Aufstellung der europäischen Raketenabwehr. Ich hätte dieses Thema nicht erwähnt, wenn solche Spielchen nicht unmittelbar an den russischen Grenzen geführt, wenn sie unsere Sicherheit und die Stabilität auf der Welt nicht gefährden würden.
Unsere Argumente sind allgemein bekannt, ich will sie auch nicht schon wieder durchkauen, aber leider sind unsere westlichen Partner dafür nicht aufnahmefähig und schieben sie von sich.
Uns bereitet es Sorgen, dass die Nato mit ihren jüngsten Aktivitäten unser gegenseitiges Vertrauen verletzt, obwohl sich die Umrisse unserer «neuen» Beziehungen mit der Allianz noch nicht einmal endgültig geformt haben. Ein derartiges Vorgehen wirkt sich wie ein Querschläger auf die Erfüllung von globalen Aufgaben aus und hindert die Festigung einer positiven Agenda der internationalen Beziehungen, bremst ihre konstruktive Entwicklung.

In den internationalen Beziehungen entsteht ein neues Vakuum – ein moralisch-rechtliches

Die zahlreichen bewaffneten Konflikte, die in jüngster Zeit ausgebrochen sind und die durch humanitäre Ziele gerechtfertigt werden, verletzen das seit Jahrhunderten heilige Prinzip der staatlichen Souveränität. In den internationalen Beziehungen entsteht ein neues Vakuum – ein moralisch-rechtliches.
Man sagt oft, die Menschenrechte hätten Vorrang gegenüber der staatlichen Souveränität. Das stimmt zweifelsohne – jegliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit müssen von internationalen Gerichten geahndet werden. Wenn aber unter solchen Vorwänden die staatliche Souveränität einfach verletzt wird, wenn die Menschenrechte von äusseren Kräften selektiv beschützt werden, wenn bei der «Verteidigung der Menschenrechte» die Rechte von vielen anderen Menschen verletzt werden, darunter das allerwichtigste und heilige Recht auf Leben, dann handelt es sich nicht um eine edle Sache, sondern um ganz einfache Demagogie.
Wichtig ist, dass die Uno und ihr Sicherheitsrat dem Diktat seitens einiger Länder und der Willkür in der Weltgemeinschaft effektiv entgegentreten können. Niemand darf sich UN-Vollmachten aneignen, besonders wenn es um die Gewaltanwendung gegenüber souveränen Staaten geht. Vor allem gilt das für die Nato, die für eine «Verteidigungsallianz» untypische Funktionen ausüben will. All das ist mehr als ernsthaft. Wir wissen noch zu gut, wie Staaten, die Opfer der «humanitären»  Einsätze und des Exports der «Raketen- und Bomben-Demokratie» geworden sind, vergebens zu Völkerrechtsnormen und trivialem menschlichen Anstand aufgerufen hatten.

USA und Nato wollen merkwürdige Sonderrolle in der Welt

Es sieht so aus, als würden die Nato-Länder und vor allem die USA eine eigenartige Vorstellung von Sicherheit haben, die sich von unserer grundsätzlich unterscheidet. Die Amerikaner sind von der Idee besessen, sich die absolute Unantastbarkeit zu sichern, was allerdings utopisch und unerfüllbar ist – sowohl aus technologischer als auch aus geopolitischer Sicht. Das ist der Kern des Problems.
Die absolute Unantastbarkeit eines Landes würde die absolute Verletzbarkeit aller anderen bedeuten. Eine solche Perspektive wäre inakzeptabel. Eine andere Sache ist, dass viele Länder aus allgemein bekannten Gründen darüber nicht direkt reden wollen. Russland wird aber immer das Kind offen beim Namen nennen. Ich betone erneut, dass die Verletzung des Prinzips der Einheit und Unteilbarkeit der Sicherheit – besonders trotz öfter deklarierter Treue zu diesem Prinzip – immer grosse Gefahren verursachen kann. Letztendlich wäre das auch für Staaten gefährlich, die solche Verletzungen aus verschiedenen Gründen initiieren.

«Arabischer Frühling»: Lehren und Schlüsse

Vor einem Jahr hat die Welt ein neues Phänomen kennengelernt: Den fast zeitgleichen Ausbruch von Protesten gegen die autoritären Regimes in vielen arabischen Ländern. Ursprünglich wurde der «Arabische Frühling» mit der Hoffnung auf positive Wandlungen wahrgenommen. Die Sympathien der Russen gehörten den Kräften, die demokratische Reformen forderten.
Bald wurde aber klar, dass sich die Situation in vielen Ländern nach einem nicht gerade zivilisierten Szenario entwickelte. Statt der Festigung der Demokratie und der Verteidigung der Rechte der Minderheit kam es zu Machtstürzen, wobei die Dominanz der einen Kräfte durch eine noch aggressivere Dominanz der anderen abgelöst wurde.
Die Situation verschlimmerte sich wegen der Einmischung von äusseren Kräften in diese inneren Konflikte, zumal diese Einmischung mit Gewaltanwendung verbunden war. Es kam sogar dazu, dass mehrere Länder unter dem Vorwand der Humanität ihre Luftstreitkräfte eingesetzt und das libysche Regime gestürzt haben. Der Höhepunkt waren die widerlichen TV-Bilder der nicht einmal mittelalterlichen, sondern sogar archaisch wirkenden Tötung Muammar Gaddafis.

Sich um innere Aussöhnung in Syrien bemühen

Es ist unzulässig, dass sich das «libysche Szenario» nun auch in Syrien wiederholt. Die Weltgemeinschaft sollte sich vor allem um eine innere Aussöhnung in Syrien bemühen. Die Gewalt sollte möglichst schnell unterbunden werden, von wo auch immer sie kommen mag. In Syrien sollte endlich ein nationaler Dialog beginnen – ohne jegliche Vorbedingungen, ohne internationale Intervention und unter Berücksichtigung der Souveränität dieses Landes. Dadurch würden Voraussetzungen dafür entstehen, dass die von der syrischen Führung verkündeten Massnahmen zur Demokratisierung tatsächlich in Erfüllung gehen. Das Wichtigste ist, einen grossen Bürgerkrieg zu verhindern. Daran wird die russische Diplomatie immer arbeiten.
Wir haben aus den traurigen Erfahrungen der letzten Zeit gelernt und sind gegen Resolutionen des UN-Sicherheitsrats, die als Signal zu einer militärischen Einmischung in die innenpolitischen Prozesse Syriens gedeutet werden könnten. Das ist die prinzipielle Position Russlands, das neben China Anfang Februar eine doppelsinnige Resolution blockiert hat, die in Wahrheit Gewaltaktionen einer der Konfliktseiten stimulieren würde.

Unproduktive und gefährliche Logik

In diesem Zusammenhang und angesichts der fast schon hysterischen Reaktion auf das russisch-chinesische Veto im Weltsicherheitsrat warne ich unsere westlichen Kollegen abermals vor dem Versuch, zu dem bereits erprobten Schema zu greifen: Hat der UN-Sicherheitsrat dieser oder jener Aktion zugestimmt – dann ist das gut, wenn nicht, dann bilden wir eine Koalition der interessierten Staaten und schlagen zu.

Logik eines solchen Verhaltens ist unproduktiv und sehr gefährlich

Die Logik eines solchen Verhaltens ist unproduktiv und sehr gefährlich. Sie kann nur böse Folgen haben. Jedenfalls wird dadurch die Regelung der Situation innerhalb eines von einem Konflikt betroffenen Landes behindert. Noch schlimmer ist aber, dass dadurch das Gleichgewicht des internationalen Sicherheitssystems gestört und die Autorität und die zentrale Rolle der Uno verletzt werden. Nicht zu vergessen ist, dass das Vetorecht im UN-Sicherheitsrat keine Kapriole ist, sondern ein unentbehrlicher Teil der Weltordnung, die in der Uno-Charta festgeschrieben ist – auf Initiative der USA wohlgemerkt. Der Sinn des Vetorechts besteht darin, dass die Entscheidungen, gegen die ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats auftritt, nicht begründet und wirksam sein können.
Ich rechne damit, dass die USA und andere Länder die traurigen Erfahrungen berücksichtigen und auf ein gewaltsames Szenario in Syrien ohne die Zustimmung des UN-Sicherheitsrats verzichten. Ich kann eigentlich nicht nachvollziehen, warum diese Länder so aggressiv vorgehen und nicht die Geduld haben, gemeinsam einen ausbalancierten und sicheren Ausweg zu finden, zumal ein solcher sich angesichts der erwähnten Syrien-Resolution bereits nahezu abgezeichnet hätte. Man müsste nur dasselbe von der bewaffneten Opposition verlangen wie von den Regierungskräften – darunter den Abzug der bewaffneten Verbände aus den Städten. Der Verzicht darauf war zynisch. Wenn wir die friedlichen Einwohner beschützen wollen (für Russland ist das das allerwichtigste Ziel), dann sollten alle Teilnehmer der bewaffneten Konfrontation zur Ordnung gerufen werden.

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