© farbfilm verleih GmbH / David Sieveking mit seiner Mutter Gretel, im Hintergrund Vater und Ehemann Malte Sieveking.
Immer weniger nimmt Davids Mutter am Leben der Familie teil. Sie sitzt in einem Stuhl oder liegt erschöpft auf dem Bett, die Augen geschlossen. Mal hält sie ihren Sohn für ihren Ehemann, mal weiß sie weder wer der eine, noch wer der andere ist. Gretel Sieveking leidet an Alzheimer-Demenz. Inzwischen müsste man in der Vergangenheitsform sprechen, im Februar 2012 verstarb die Mutter des Dokumentarfilmers David Sieveking. Die Demenz führte bei ihr, wie bei vielen anderen Menschen auch, zum Abbau der wichtigsten Funktionen ihres Gehirns: das Denken, das Erinnern, das Orientieren. Immer mehr war Gretel auf die Hilfe ihrer Familie angewiesen um im Alltag zu Recht zu kommen. Sohnemann David Sieveking brachte 2010 noch seine transzendentale Meditationsenthüllung „David wants to fly“ in die Kinos, wo er der von Maharishi Mahesh Yogi gegründeten spirituellen Bewegung auf den Zahn fühlte. Nun verschlägt es ihn zurück in die eigene Heimat, in die eigene Vergangenheit, wo er gar nicht so sehr zu fliegen beginnt, sondern vielmehr auf dem Boden der Tatsachen aufprallt.
Für seine Familiendokumentation „Vergiss mein nicht“ zieht David Sieveking wieder zu Hause bei seinen Eltern ein, unterstützt seinen Vater Malte für einige Wochen bei der Pflege seiner Mutter. Malte Sieveking kümmert sich nun seit fünf Jahren um seine Ehefrau, seit er als Mathematik-Dozent in den Ruhestand gegangen ist, den er sich wahrlich anders vorgestellt hatte. Dank David ist er nun in der Lage während eines Kurzurlaubs in der Schweiz neue Kraft zu tanken. Der Sohn ist derweil schon nach einer Woche ausgelaugt, am Ende, fühlt sich kraftlos und müde durch die Dauerbetreuung. Aber es soll sich auszahlen. Nach und nach lernt er das Leben seiner Mutter besser kennen, entdeckt im Gespräch mit früheren und jetzigen Freunden ihre rebellisch-politische Vergangenheit, aber auch ihren damalig freien Lebensgeist. Die Kamera begleitet das Ehepaar Sieveking dann auch auf ihrer letzten gemeinsamen Reise, wenn Malte Sieveking seine Frau zum Hochzeitstag noch einmal mit nach Hamburg nimmt, dort wo sie sich kennenlernten, wo ihre Liebe begann.
Gretel und Malte Sieveking
Doch nicht immer ist „Vergiss mein nicht“ so herzerwärmend wie in solchen Momenten. Natürlich lieben sich Gretel und Malte Sieveking noch, wenn es auch schwer für den Ehemann geworden ist. Zu sehr ist er geistig mit anderen Dingen beschäftigt, möchte weiterhin seiner Mathematik nachgehen, nun ungezwungen in seiner Freizeit Gleichungen und Formeln aufstellen. Doch stattdessen ist er an seine Ehefrau gebunden, stärker als beide es jemals geahnt hätten. Das wirkt mal bemitleidenswert, dann wieder rührend, mal aber auch schmerzt es einfach nur. Zum Beispiel wenn er seine Frau zu einer ärztlichen Untersuchung begleitet, die ihm bestätigt dass ihr Zustand nur schlimmer wird. Ihm stehen die Tränen in den Augen, der Sohn versteckt sich irgendwo hinter der Kamera, lässt das Bild bei seinem Vater verharren. Gleiches wiederfährt den Freundinnen Gretels, die in einer verstörend anrührenden Szene ihrer guten Freundin ein Klavierstück vorspielen, sie auffordern auch in die Tasten zu klimpern. Sie aber ist selbst verwirrt, ein Stückchen Erinnerung scheint hervor zu kommen, zeitgleich aber auch die Leere, keinerlei Wissen mehr über das Spiel an diesem Musikinstrument. Sie will, kann aber nicht. In keiner Szene wird das deutlicher als in dieser Kaffeekranz-Situation. Die Freundinnen sitzen am Ende still auf dem Sofa, blicken auf Gretel. Sie werden sich ähnlich fühlen wie Malte zuvor: hilflos, bekümmert, sie verstehen die Welt nicht mehr.
Als Zuschauer fühlt man sich mittendrin, das muss man Filmemacher David Sieveking zugestehen. Er inszeniert die Geschichte seiner eigenen Eltern so offen, so universell, so nachempfindbar – bleibt zugleich aber auch selbst immer im Bilde, entfernt sich niemals zu sehr von der eigenen Familiengeschichte. Er hält die Balance, ein schwerer Akt, auf vielerlei Ebenen. Es ist ein Stück Intimität von der er erzählt, zugleich auch eine allgemeingültige Studie über den Alzheimer-Demenz-Verlauf. Es ist aber auch eine tragische Lebensgeschichte, nur um dann im nächsten Moment umzuschlagen zu einer heiteren Familienepisode. Man selbst fragt sich an solcherlei Stellen, ob es nicht verwerflich ist nun zu lachen, zumindest zu schmunzeln, vor dem Hintergrund des schweren Schicksals mit dem sich Gretel Sieveking – wie auch ihre eigene Mutter – auseinandersetzen muss. Dann aber sieht man die übrigen Familienmitglieder, sieht David immer wieder auch vor der Kamera, Ehemann Malte wie sie gemeinsam Spaß haben, miteinander immer noch lachen können. Sie bringen Gretel alle noch Liebe entgegen, haben sie nicht aufgegeben – werden das auch niemals tun. Aber aus dieser Liebe, so schön sie anzusehen ist, erwachsen dann auch wieder die traurigen Momente. Viel eindringlicher wirkt jede Minute unter dem emotionalen Hürdenlauf.
Das Ehepaar in jungen Jahren
Neben den Emotionen verwebt Sieveking aber auch die Fakten in die Geschichte. Er hat dort zwei interessante Elternteile, deren Vergangenheit es zu erzählen auch lohnt. Der Vater, ein pensionierter Mathematik-Dozent, der sich nicht so wirklich binden wollte. Die Mutter, eine politische Aktivistin, später sogar mit einer eigenen Fernsehsendung im NDR. Beide verfolgten zu damaligen Zeiten die Vorstellung der freien Liebe, waren sich nur darin einig, für immer zusammen bleiben zu wollen, trotz vorhersehbarer Seitensprünge. Dennoch war die Ehe einmal kurz vor ihrem Ende, man konnte sich jedoch wieder zusammen raufen, nur deswegen gibt es jetzt auch David Sieveking. Hätten Gretel und Malte nicht wieder zueinander gefunden, gäbe es weder ihn noch „Vergiss mein nicht“. Diese Erzählungen sind bemerkenswerte Details im Fluss der Geschichte, der Sohn hört zu, erfährt von Dingen, die manch einer niemals aus dem Mund der eigenen Eltern hören wollen würde. Der Filmemacher teilt sie nun mit dem Kinopublikum.
Vor allem aber fragt man sich bei diesen Ausflügen in die Vergangenheit, wie aus dieser hübschen Gretel Sieveking diese alte Frau werden konnte, die überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit ihrem jüngeren Ich hat? Das ist traurig, die Krankheit hat ihr auch visuell erheblich zugesetzt. In ihrer Blütezeit waren Malte und Gretel ein durchaus attraktives Pärchen, hier vor der Kamera wirkt Malte jetzt um viele Jahre jünger als seine erkrankte Ehefrau. Der Titel „Vergiss mein nicht“ bezieht sich am Ende nicht nur auf die thematisch behandelte Demenz-Erkrankung, sondern bildet zugleich auch einen stimmigen Titel für dieses Zeitzeugnis über David Sievekings Mutter, eine Erinnerung die für immer da sein wird. Eine wirklich schöne Erinnerung. Die Widmung am Ende könnte schöner und passender nicht sein.
Denis Sasse
“Vergiss mein nicht“
Originaltitel: Vergiss mein nicht
Altersfreigabe: ohne Altersbeschränkung
Produktionsland, Jahr: D, 2012
Länge: ca. 92 Minuten
Regie: David Sieveking
Darsteller: David Sieveking, Malte Sieveking, Gretel Sieveking
Deutschlandstart: 31. Januar 2013
Offizielle Homepage: vergiss_mein_nicht.html