Shine hat drei Aspekte – friedvoll, beruhigend und verweilend. Warum beruhigend? Weil der Geist entspannt wird. So wie Longchen Rabjam in seinem Text „Gütigst geneigt, uns zu entspannen“ über Shine erklärt, ist der Geist entspannt. Wenn man Shine weiter entwickelt, dann kann man zu außergewöhnlichem Shine kommen. Vom außergewöhnlichen Shine wieder kann man zum Dzogchen-Verständnis von Shine kommen. Ist man dann zum Dzogchen-Verständnis von Shine gelangt, kommt man zum Verständnis der wahren Natur des Gewahrseins. Aber bevor man zum wirklichen Gewahrsein kommt, muss man zuerst wissen, wie man die Gedanken laufen lässt und atmet. Andernfalls wird man Rigpa nicht kennen, man wird es nicht erblicken. Ihr könnt Rigpa nicht einfach so sehen. Rigpa kommt aus der destillierten Reinigung von Shine. Shine ist die Sache, die reinigt und destilliert. Dann gelangt ihr zum Verständnis des Dzogchen-Shine. Aber zuerst müsst ihr euch klar machen, was Phänomene sind. Wir müssen uns klar machen, wer die Phänomene sieht. Wir müssen uns die Art und Weise klar machen, wie Phänomene erscheinen, sodass ihr das zumindest kennt. Wenn ihr dann zu Dzogchen kommt, dann werdet ihr damit beginnen, fähig zu sein, die Phänomene zu befreien. Aber das ist ein sehr hoher Ausdruck von Geschick. Ihr werdet nicht die Fähigkeit haben, damit zu beginnen. Wenn ihr nicht einmal eure Gedanken erkennt, was wollt ihr dann befreien? Wie könnt ihr die befreien, wenn ihr nicht einmal die Gedanken kennt? Ihr habt nicht einmal die verschiedenen Gedankenmuster erkannt. Wenn ihr sie nicht erblickt und alle von diesen vier Gedankenmustern klar erkannt habt, wie wollt ihr dann irgendwelche Gedanken befreien? Wenn ihr sie erkannt habt, dann werdet ihr sie befreien. Aber wenn ihr sie nicht erkennt, was könnt ihr dann befreien?
Nach-Meditation
Ihr wisst dann also, dass eure Praxis gut verläuft, wenn ihr sanfter und freundlicher zu anderen seid, als zuvor. Also bei Shine vergesst nicht, Meditation in Shine ist eine Sache, aber die Nach-Meditation ist gleich wichtig. Ihr müsst diese beiden zusammenbringen. Es kann nicht so sein: „Oh, ich meditiere nun, also ist Mitgefühl da. Und sobald ich aus der Meditation herauskomme, bin ich mein altes Selbst.“ Da muss es eine Beständigkeit von der Meditation zur Nach-Meditation geben. Es gibt nicht so etwas, wie „aus der Meditation auftauchen.“ Wenn wir meinen, dass wir von der Meditation aufstehen, dann ist das einfach ein Konzept. Wir müssen in dem gleichen, dahinströmenden Fluss der Meditation sein. Das gibt es nicht so etwas wie „darin“ und da ist auch nicht so etwas „heraus“. Es sollte beständig sein. Ihr müsst lernen, wie man in der Nach-Meditation sanft spricht. Ihr müsst lernen, die ganze Zeit über gewahr zu sein. Die ganze Zeit seid euch der Natur der Gedanken gewahr.
Der Schlüssel ist Gewahrsein. Genauso wie eine Mutter ihr einziges Kind verliert, ob sie nun sitzt, herumgeht oder kocht, das Gesicht des Kindes ist in ihrem Geist. Genauso müssen wir dieses Gewahrsein die ganze Zeit über aufrecht halten, wenn wir in Meditation sind. Das ist nun der schwierige Teil, der zu erledigen ist. Mit den Gedanken ist es als ob ihr entlang geht und euch ein plötzlicher Pfeil trifft und euren Magen durchbohrt. Was ist dann für euch wichtig? Wollt ihr wissen, wo der Pfeil herkommt, wer ihn abgeschossen hat und wo ihr getroffen wurdet? Oder ist es wichtig, diesen Pfeil so rasch wie möglich aus eurem Körper zu entfernen? Fragen wie, wo kommt er her und wo geht er hin. Da gibt es keine Zeit für diese langwierigen rationalen Analysen. Ihr müsst unmittelbar in das Gewahrsein blicken, nicht in die Fragen und Gründe. Gewahrsein ist der Schlüssel. Geht mit Gewahrsein, schlaft mit Gewahrsein und steht auf mit Gewahrsein. Wenn ihr mit eurem Mund sprecht, dann solltet ihr das Gewahrsein haben, was ihr sagt. Sagt nicht einfach etwas zum Wohle anderer. Seid achtsam! Wacht darüber, wie dieser Mund von euch sich bewegt.
Bevor ihr mit Shine beginnt, findet heraus, wer der Meister ist. Ist der Geist der Meister oder ist die Rede der Meister oder ist der Körper der Meister. Wenn ihr danach sucht, werdet ihr herausfinden, dass der Geist der Meister von allem ist. Schaut also, dass ihr diesen Geist in den Griff bekommt. Der Körper für sich genommen, hat nichts damit zu tun. Körper und Rede kommen beide vom Geist. Sie kommen von nirgendwo sonst her.
Diese Unterweisungen wurden von Lama Shenphen Dawa, dem Sohn Dudjom Rinpoches gegeben und vom Ngak’chang Rangdrol Dorje (Enrico Kosmus, 2015) ins Deutsche übertragen.