Romanrezension: «Das Erwachen» von Andreas Brandhorst (Piper Verlag)

Machen wir uns nichts vor: Es gibt heute kaum noch einen Bereich unseres Lebens, den die digitale Vernetzung noch nicht durchdrungen hat. Und wir nehmen dies oftmals ohne Widerspruch hin, weil das Wirken der Algorithmen, der Bits und Bytes und intelligenten Maschinen viele Annehmlichkeiten bedeutet. Doch haben wir wirklich noch die Kontrolle über das Netzwerk? Und wenn ja, was passiert wenn wir sie verlieren? In seinem neuen Wissenschaftsthriller Das Erwachen, der bei Piper am 2. Oktober 2017 erschienen ist, geht Andreas Brandhorst genau diesen Fragen nach.

Romanrezension: «Das Erwachen» von Andreas Brandhorst (Piper Verlag)

Der ehemalige Hacker Axel setzt versehentlich ein Computervirus frei, das unzählige der leistungsfähigsten Rechner auf der ganzen Welt vernetzt. Als sich daraufhin auf allen Kontinenten Störfälle häufen und die Infrastruktur zum Erliegen kommt, die Regierungen sich gegenseitig die Schuld geben und die geopolitische Lage immer gefährlicher wird, stößt Axel gemeinsam mit der undurchsichtigen Giselle auf ein Geheimnis, das unsere Welt für immer verändern wird: In den Computernetzen ist etwas erwacht, und es scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein ... (Klappentext)

Es gibt da diese Szene aus Stanley Kubricks Film 2001 - Odyssee im Weltraum, in der sich die Astronauten Bowman und Poole an Bord der Discovery in eine schalldichte Raumapsel zurückziehen, um der Bespitzelung durch den allgegenwärtigen Computer HAL 9000 zu entgehen und zu beraten, wie sie mit der offenbar nicht mehr richtig arbeitenden künstlichen Intelligenz weiter umgehen wollen. Doch HAL findet einen Weg, dem Gespräch dennoch zu lauschen: Er liest das Gespräch von den Lippen der beiden Männer ab. Eine sehr ähnliche Szene gibt es auch in Brandhorsts neuem Roman Das Erwachen - nur heißt das Raumschiff dort Mars Discovery, das Reiseziel ist statt des Jupiters der "Rote Planet" und die KI hört auf den Namen Amelie. Andreas Brandhorst, Autor von futuristischen Thrillern und Science-Fiction-Romanen wie Das Schiff und Omni, ist sich natürlich darüber im Klaren, dass er mit dem Thema künstliche Intelligenz bzw. Maschinenintelligenz kein komplettes Neuland betritt. Also macht er das Beste daraus und erweist Kubricks Filmklassiker ebenso Reverenz, wie er die Charaktere seines neuesten Werkes gelegentlich auch den Streifen Terminator erwähnen lässt, in dem die KI Skynet ein eigenes Bewusstsein entwickelt und einen Vernichtungsfeldzug gegen die Menschheit beginnt. Doch Brandhorst wäre nicht Brandhorst, wenn er für seinen neuen Roman bekannte Versatzstücke aus Filmen über KIs, die dem Menschen über den Kopf wachsen, einfach neu kombinieren würde. Stattdessen findet der Autor einen eigenen, sowohl reizvollen wie auch beklemmenden Zugang zur Thematik: Er zeichnet die Evolution der Maschinenintelligenz, der man im Verlauf der Geschichte den Namen Goliath geben wird, nach, indem er die Auswirkungen dieses Prozesses auf die modernen Gesellschaften der frühen 2030er Jahre schildert. Also auf Gesellschaften, deren Lebensadern Elektrizität und das Internet sind. Das Chaos, dass durch das Versiegen der "Lebenssäfte" in den Metropolen rund um den Globus ausgelöst wird, wirkt dabei ebenso authentisch wie die Versuche der Experten, die Situation irgendwie in den Griff zu bekommen und eine noch größere Katastrophe doch noch abzuwenden. Den Zeitpunkt, an dem die Geschichte spielt, hat Brandhorst clever gewählt, denn er erlaubt es dem Autor, einige Entwicklungen wie beispielsweise die Elektromobilität oder die Auswirkungen des Klimawandels aufzugreifen, während der Umstand, dass es sich um ein Szenario in der nahen Zukunft handelt, die Handlung wiederum erdet. Darüber hinaus orientiert sich der Roman an technologischen Fakten und denkt diese lediglich einen Schritt weiter, anstatt mit einer fiktiven futuristischen Computertechnologie zu operieren. Das Resultat ist eine Dystopie, die ihre beklemmende Wirkung auf den Leser dadurch entfaltet, dass sich beim Lesen unweigerlich das Gefühl breitmacht, die menschliche Zivilisation könnte tatsächlich nur wenige Jahre oder vielleicht auch nur einen schlechten Tag von dem entfernt sein, was Andreas Brandhorst in Das Erwachen schildert.

So sehr Brandhorst mit seinem bedrückenden Szenario, jeder Menge Fachwissen und einem kurzweiligen, weil schnörkellosem Schreibstil auch punkten kann: Vielschichtige Charaktere hat Das Erwachen leider kaum zu bieten. Wie in den Desaster Movies von Roland Emmerich oder Michael Bay erfüllen die Figuren über wiegend die Funktion, als Reflexionsfläche für das Geschehen zu dienen und dabei einzelne Facetten des menschlichen Wesens oder der Herkunft abzubilden. Beim Hacker Axel Krohn macht sich seine schwere Kindheit immer wieder bemerkbar; der Hamburger Kommissar Michael Rossmann ist irgendwie steif, weil eben Deutscher; Coorain Coogan ist dagegen viel lockerer, weil eben Australier; den Leuten von der NSA ist jedes Mittel recht, weil sie eben von der NSA sind. Das primäre Merkmal der Norwegerin Viktria Jorun Dahl ist Gereiztheit aufgrund von Schlafmangel; der Italiener Gaetano Calussi hat von der ersten Sekunde an das Wort "Ekelpaket" auf der Stirn stehen; die Französin Giselle Leroy besteht zu 50 Prozent aus Damsel in Distress, zu 20 Prozent aus einer Fragenstellerin, die nie befriedigende Antworten bekommt, und zu 10 Prozent aus Kung-Fu-Kämpferin, während der Rest auf Love Interest für Axel Krohn entfällt. Einziger wirklicher Lichtblick ist der Kurde Ozan Kaynak, den eine Aura des Mysteriösen und Unberechenbaren umgibt. Die Charakterisierung der Akteure reicht zwar aus, um das Interesse an ihrem Schicksal wach zu halten, bleibt dabei jedoch oberflächlich. Man muss Andreas Brandhorst jedoch zugute halten, einen derart rasanten Roman geschrieben zu haben, dass dem Leser erst im Rückblick so richtig bewusst wird, wie wenig er im Verlaufe der 736 Seiten eigentlich über die zentralen Figuren erfahren hat. Und das muss man als Autor ja auch erst einmal schaffen.

Das Erwachen ist ein Roman, den man nur ungern wieder aus der Hand legt, wenn man ihn einmal angefangen hat. Die Geschichte führt dem Leser auf spannende wie alarmierende Weise vor Augen, wie abhängig wir heute bereits von intelligenten Maschinen sind und wohin es führen könnte, wenn sich dieser Trend ungebremst fortsetzt. Andreas Brandhorst hat einen Roman geschrieben, der nicht nur fesselnd zu unterhalten weiß, sondern auch zum Nachdenken anregt. Und das macht Das Erwachen deshalb gleich doppelt empfehlenswert.

Das Erwachen ist ein Roman von Andreas Brandhorst. Am 2. Oktober 2017 ist er als Taschenbuch und als E-Book bei Piper erschienen.


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