Tiefer Winter. Aus Polen kommt ein Wolf nach Deutschland. Diese Geschichte beginnt so, dass ich sofort drin bin. Ich muss nicht lange kämpfen – bleib ich oder geh ich – nein, ich weiß sofort, hier bin ich richtig.
Roland Schimmelpfennig, bekannt als Autor diverser Theaterstücke, hat seinen ersten Roman geschrieben. Und der ist nominiert für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse.
Der Wolf kam von Osten. Er lief über das Eis der zugefrorenen Oder, erreichte das andere Ufer des Flusses und bewegte sich dann weiter Richtung Westen … Der Wolf lief im Morgenlicht unter dem wolkenlosen Himmel über weite, schneebedeckte Felder, bis er den Rand eines Waldes erreichte und darin verschwand … (S. 5).
Einen Wolf hat man in Brandenburg und ganz besonders in Berlin seit vielen Jahrzehnten nicht gesehen. Doch jetzt ist einer da und zieht seine Spur durch den Schnee Richtung Nordwest. Selten dass jemand ihm wirklich begegnet. Meist ist es lediglich das Gerücht, ihn gesehen zu haben. Oder jemand findet seine Fährte oder ein blutiges Reh im Schnee. Dieser Wolf verbindet die Schicksale diverser Personen. In sehr kurzen szenischen Kapiteln erzählt Schimmelpfennig u.a. von dem Jungen Micha und dem Mädchen Elisabeth, die gemeinsam von zu Hause abhauen, um nach Berlin zu gehen, von einem alkoholkranken Mann, von dem polnischen Bauarbeiter Tomasz, einem Spätverkaufbesitzer und dessen Freundin.
Manche Figuren haben keine Namen, was mich anfangs beim Lesen irritierte, weil beispielsweise Tomasz und Agniezka mit Namen genannt werden. Und weil das manchmal komisch klingt:
Der Junge lief am Platz entlang und wollte dann die Lychener Straße hochlaufen.
Die Tür einer Kneipe wurde aufgestoßen, und dann stießen zwei Männer einen dritten, älteren Mann die Eingangsstufen hinunter auf die Straße. Der Mann stürzte in den Schnee und blieb vor dem Jungen liegen. Der Mann im Schnee war der Vater des Jungen (S. 192).
Aber hat es mich gestört? Hat es nicht. Im Gegenteil – mit diesen fremd wirkenden Blicken auf die Figuren bekommt das Ganze etwas Filmisches.
Auch der Aufbau des Romans erinnert an einen Film. Ich muss an “Short Cuts” denken. Ähnlich wie der US-amerikanische Regisseur Robert Altman in Los Angeles, so lässt Schimmelpfennig seine Figuren in Berlin ganz für sich agieren, ohne sie anfangs miteinander zu verbinden. Sie alle sind Outsider, furchtbar einsam, meist unglücklich. Einziges Bindeglied: der Wolf. Berlin im Schnee ist matschig, trist und grau. Ein düsterer Roman? Keinesfalls. Die Story ist ganz dicht dran an der Realität und sie beginnt in Brandenburg, dort wo der Wolf von Polen über die Grenze kommt. Einsame Landschaften und Wälder, kaum Menschen …
Zentraler Ort der Geschichte jedoch ist der Berliner Bezirk Prenzlauer Berg zwischen Schönhauser und Prenzlauer Allee. Schimmelpfennig gelingt es auch deshalb, mich ganz schnell zu begeistern, weil ich in jenem Viertel viele Jahre zu Hause war. Stargarder Strasse, Lychener Strasse, die S-Bahngleise … im Kopf gehe ich mit den Figuren des Romans und mit dem Wolf mit. Jeder Straßenzug, die Altbauten, die Kneipen und Cafés – alles so vertraut. Unzählige Schichten von Tapeten in alten Wohnungen erzählen Geschichten, da wo sie noch nicht abgerissen sind. Doch viele der altbekannten Häuser sind komplett entkernt, renoviert und saniert. Gläserne Fahrstühle schmücken die einst grauen Wände.
Baulücken werden geschlossen, die neuen Häuser aus Glas und Beton wirken kalt und leblos. Das ist zwar nicht mehr der Prenzlauer Berg, den ich kenne und doch ist die charmante Tristesse, die dieser alte Arbeiterbezirk an manchen Ecken immer noch verströmt, spürbar. Und fast glaubt man einen Film in Schwarz-Weiß zu schauen. Die Stimmung ist melancholisch, die Wirkung des Romans subtil. So spüre ich beim Lesen nicht direkt, wohl aber zwischen den Zeilen die Einsamkeit und die Verzweiflung der Personen und deren Wunsch nach einem sinnvollen Leben. Elisabeth, Micha, Agnieszka, Tomasz und all die anderen sind zwar lediglich skizziert, auch fehlt den Charakteren eine tiefe Auslotung. Aber genau das ist Großstadt! Wir sind so viele Menschen in unzähligen Parallelwelten. Hier ein Säufer in einer Kneipe, da ein einsamer polnischer Bauarbeiter oder zwei Straßenkinder. Wir eilen vorbei, werfen eventuell einen Blick und hasten schnell weiter. In unsere eigene kleine Welt. Die schon morgen zerbrechen kann.
Roland Schimmelpfennig. An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. S. Fischer Verlag GmbH. Frankfurt am Main 2016. 254 Seiten. 18,99 €